c. Erklärungen über die Verschiedenheit der Philosophien

[36] Es ist allerdings genug gegründete Tatsache, daß es verschiedene Philosophien gibt und gegeben hat. Die Wahrheit aber ist eine; – dieses unüberwindliche Gefühl oder Glauben hat der Instinkt der Vernunft. Also kann auch nur eine Philosophie die wahre sein; und weil sie so verschieden sind, so müssen – schließt man – die übrigen nur Irrtümer sein; aber jene eine zu sein, versichert, begründet, beweist eine jede von sich. – Dies ist ein gewöhnliches Räsonnement und eine richtig scheinende Einsicht des nüchternen Denkens. Was nun die Nüchternheit des Denkens, dieses Schlagwort betrifft, so wissen wir von der Nüchternheit aus der täglichen Erfahrung, daß, wenn wir nüchtern sind, wir uns zugleich damit oder gleich darauf hungrig fühlen. Jenes nüchterne Denken aber hat das Talent und Geschick, aus seiner Nüchternheit nicht zum Hunger, zum Verlangen überzugehen, sondern in sich satt zu sein und zu bleiben. Damit verrät sich dieses Denken, das jene Sprache spricht, daß es toter Verstand ist, denn nur das Tote ist nüchtern und ist und bleibt dabei zugleich satt. Die physische Lebendigkeit aber, wie die Lebendigkeit des Geistes, bleibt in der Nüchternheit nicht befriedigt, sondern ist Trieb, geht über in den Hunger[36] und Durst nach Wahrheit, nach Erkenntnis derselben, dringt nach Befriedigung dieses Triebes und läßt sich nicht mit solchen Reflexionen, wie jene ist, abspeisen und ersättigen.

Was aber näher über diese Reflexion zu sagen ist, wäre schon zunächst dies, daß, so verschieden die Philosophien wären, sie doch dies Gemeinschaftliche hätten, Philosophie zu sein. Wer also irgendeine Philosophie studierte oder innehätte (wenn es anders eine Philosophie ist), hätte damit doch Philosophie inne. Jenes Ausreden und Räsonnement, das sich an die bloße Verschiedenheit festhält und aus Ekel oder Bangigkeit vor der Besonderheit, in der ein Allgemeines wirklich ist, nicht diese Allgemeinheit ergreifen oder anerkennen will, habe ich anderswo mit einem Kranken verglichen, dem der Arzt Obst zu essen anrät und dem man Kirschen oder Pflaumen oder Trauben vorsetzt, der aber in einer Pedanterie des Verstandes nicht zugreift, weil keine dieser Früchte Obst sei, sondern die eine Kirschen, die andere Pflaumen oder Trauben.

Aber es kommt wesentlich darauf an, noch eine tiefere Einsicht darein zu haben, was es mit dieser Verschiedenheit der philosophischen Systeme für eine Bewandtnis habe. Die philosophische Erkenntnis dessen, was Wahrheit und Philosophie ist, läßt diese Verschiedenheit selbst als solche noch in einem ganz anderen Sinne erkennen als nach dem abstrakten Gegensatze von Wahrheit und Irrtum. Die Erläuterung hierüber wird uns die Bedeutung der ganzen Geschichte der Philosophie aufschließen.

Wir müssen dies begreiflich machen, daß diese Mannigfaltigkeit der vielen Philosophien nicht nur der Philosophie selbst – der Möglichkeit der Philosophie – keinen Eintrag tut, sondern daß sie zur Existenz der Wissenschaft der Philosophie schlechterdings notwendig ist und gewesen ist, – dies ihr wesentlich ist.[37]

Bei dieser Betrachtung gehen wir freilich davon aus, daß die Philosophie das Ziel habe, die Wahrheit denkend, begreifend zu erfassen, nicht dies zu erkennen, daß nichts zu erkennen sei, wenigstens daß die wahre Wahrheit nicht zu erkennen sei, sondern nur zeitliche, endliche Wahrheit (d.h. eine Wahrheit, die zugleich auch ein Nichtwahres ist); ferner, daß wir es in der Geschichte der Philosophie mit der Philosophie selbst zu tun haben.

Wir können das, worauf es hier ankommt, in die einzige Bestimmung der »Entwicklung« zusammenfassen. Wenn uns diese deutlich wird, so wird alles übrige sich von selbst ergeben und folgen. Die Taten der Geschichte der Philosophie sind keine Abenteuer – sowenig die Weltgeschichte nur romantisch ist –, nicht nur eine Sammlung von zufälligen Begebenheiten, Fahrten irrender Ritter, die sich für sich herumschlagen, absichtslos abmühen und deren Wirksamkeit spurlos verschwunden ist. Ebensowenig hat sich hier einer etwas ausgeklügelt, dort ein anderer nach Willkür, sondern in der Bewegung des denkenden Geistes ist wesentlich Zusammenhang. Es geht vernünftig zu. Mit diesem Glauben an den Weltgeist müssen wir an die Geschichte und insbesondere an die Geschichte der Philosophie gehen.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 18, Frankfurt am Main 1979, S. 36-38.
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