a. Zeitliche Entwicklung der mannigfaltigen Philosophien

[50] Die unmittelbarste Frage, welche über diese Geschichte gemacht werden kann, betrifft jenen Unterschied der Erscheinung der Idee selbst, welcher soeben gemacht worden ist, – die Frage, wie es kommt, daß die Philosophie als eine Entwicklung in der Zeit erscheint und eine Geschichte hat. Die Beantwortung dieser Frage greift in die Metaphysik der Zeit ein, und es würde eine Abschweifung von dem Zweck, der hier unser Gegenstand ist, sein, wenn hier mehr als nur die Momente angegeben würden, auf die es bei der Beantwortung der aufgeworfenen Frage ankommt.

Es ist oben über das Wesen des Geistes angeführt worden, daß sein Sein seine Tat ist. Die Natur ist, wie sie ist, und ihre Veränderungen sind deswegen nur Wiederholungen, ihre Bewegung nur ein Kreislauf. Näher ist seine Tat die, sich zu wissen. Ich bin, unmittelbar; aber so bin ich nur als lebendiger Organismus; als Geist bin ich nur, insofern ich mich weiß. Gnôthi seauton wisse Dich, die Inschrift über dem Tempel des wissenden Gottes zu Delphi, ist das absolute Gebot, welches die Natur des Geistes ausdrückt. Das Bewußtsein aber enthält wesentlich dieses, daß ich für mich, mir Gegenstand bin. Mit diesem absoluten Urteil, der Unterscheidung meiner von mir selbst, macht sich der Geist zum Dasein, setzt sich als sich selbst äußerlich; er setzt sich in die Äußerlichkeit, welches eben die allgemeine, unterscheidende Weise der Existenz der Natur ist. Die eine der Weisen der Äußerlichkeit aber ist die Zeit, welche Form sowohl in der Philosophie der Natur als des endlichen Geistes ihre nähere Erörterung zu erhalten hat.

Dies Dasein und damit In-der-Zeit-Sein ist ein Moment nicht nur des einzelnen Bewußtseins überhaupt, das als solches wesentlich endlich ist, sondern auch der Entwicklung der philosophischen Idee im Elemente des Denkens. Denn die Idee, in ihrer Ruhe gedacht, ist wohl zeitlos; sie in ihrer Ruhe denken ist, sie in Gestalt der Unmittelbarkeit festhalten,[51] ist gleichbedeutend mit der inneren Anschauung derselben. Aber die Idee ist als konkret, als Einheit Unterschiedener, wie oben angeführt ist, wesentlich nicht Ruhe und ihr Dasein wesentlich nicht Anschauung, sondern als Unterscheidung in sich und damit Entwicklung tritt sie in ihr selbst ins Dasein und in die Äußerlichkeit im Elemente des Denkens; und so erscheint im Denken die reine Philosophie als eine in der Zeit fortschreitende Existenz. Dies Element des Denkens selbst aber ist abstrakt, ist die Tätigkeit eines einzelnen Bewußtseins. Der Geist ist aber nicht nur als einzelnes, endliches Bewußtsein, sondern als in sich allgemeiner, konkreter Geist. Diese konkrete Allgemeinheit aber befaßt alle die entwickelten Weisen und Seiten, in denen er sich der Idee gemäß Gegenstand ist und wird. So ist sein denkendes Sich-Erfassen zugleich die von der entwickelten, totalen Wirklichkeit erfüllte Fortschreitung – eine Fortschreitung, die nicht das Denken eines Individuums durchläuft und sich in einem einzelnen Bewußtsein darstellt, sondern der als in dem Reichtum seiner Gestaltung, in der Weltgeschichte sich darstellende allgemeine Geist. In dieser Entwicklung geschieht es daher, daß eine Form, eine Stufe der Idee in einem Volke zum Bewußtsein kommt, so daß dieses Volk und diese Zeit nur diese Form ausdrückt, innerhalb welcher es sich sein Universum ausbildet und seinen Zustand ausarbeitet, die höhere Stufe dagegen Jahrhunderte nachher in einem anderen Volke sich auftut.

Wenn wir nun so diese Bestimmungen von Konkret und Entwicklung festhalten, so erhält die Natur des Mannigfaltigen einen ganz anderen Sinn, so ist mit einem Male das Gerede von der Verschiedenheit der Philosophien, als ob das Mannigfaltige ein Stehendes, Festes, außereinander Bleibendes sei, niedergeschlagen und an seinen Ort gestellt, – das Gerede, an welchem das Vornehmtun gegen Philosophie eine selbst unüberwindliche Waffe gegen sie zu besitzen glaubt und in seinem Stolze auf solche armselige Bestimmungen (ein wahrer Bettelstolz) zugleich selbst über das ganz Wenige[52] ganz unwissend ist, was es besitzt und zu wissen hat, z.B. hier Mannigfaltigkeit, Verschiedenheit. Dies ist eine Kategorie, die doch jeder versteht, er hat gar kein Arges daran, ist damit bekannt und meint, sie als eine völlig verstandene handhaben und gebrauchen zu können; es verstehe sich von selbst, daß er wisse, was das ist. Die aber die Mannigfaltigkeit für eine absolut feste Bestimmung halten, kennen ihre Natur und die Dialektik derselben nicht. Die Mannigfaltigkeit ist im Flusse, muß wesentlich als in der Bewegung der Entwicklung gefaßt werden, – ein vorübergehendes Moment. Die konkrete Idee der Philosophie ist die Tätigkeit der Entwicklung, die Unterschiede, die sie an sich enthält, herauszusetzen. Diese Unterschiede sind Gedanken überhaupt, denn wir sprechen hier von der Entwicklung im Denken. Die Unterschiede, die in der Idee liegen, werden als Gedanken gesetzt; das ist das erste. Das zweite ist, daß diese Unterschiede zum Bestehen kommen müssen, der eine hier, der andere da. Daß sie dies vermögen, dazu müssen sie Ganze, Totalität sein, die Totalität der Idee in ihnen enthalten. Nur das Konkrete ist das Wirkliche, welches die Unterschiede trägt; so sind die Unterschiede als ganze Gestalten.

Solche vollständige Gestaltung des Gedankens ist eine Philosophie. Die Unterschiede enthalten aber die Idee in einer eigentümlichen Form. Man könnte sagen, die Form sei gleichgültig, der Inhalt, die Idee sei die Hauptsache. Und man meint leicht billig zu sein, wenn man zugibt, die verschiedenen Philosophien enthalten die Idee, nur in verschiedenen Formen – in dem Sinne, daß diese Formen zufällig seien. Es kommt aber allerdings auf sie an. Diese Formen sind nichts anderes als die ursprünglichen Unterschiede der Idee selbst; sie ist nur in ihnen, was sie ist; sie sind ihr also wesentlich, sie machen den Inhalt der Idee aus. Der Inhalt legt sich auseinander, und so ist er als Form. Die Mannigfaltigkeit der Bestimmungen, die hier erscheint, ist aber nicht unbestimmt, sondern notwendig; die Formen integrieren sich[53] zur ganzen Form. Es sind die Bestimmungen der ursprünglichen Idee; zusammen macht ihr Bild das Ganze aus. So wie sie außereinander sind, so fällt das Zusammen derselben nicht in sie, sondern in uns, die Betrachtenden.

Jedes System ist in einer Bestimmung; allein es bleibt nicht dabei, daß sie so außereinander sind. Es muß das Schicksal dieser Bestimmungen eintreten, welches eben dies ist, daß sie zusammengefaßt und zu Momenten herabgesetzt werden. Die Weise, wonach jedes sich als Selbständiges setzte, wird wieder aufgehoben; nach der Expansion tritt Kontraktion ein – die Einheit, wovon sie ausgegangen waren. Dies Dritte kann selbst wieder nur der Anfang einer weiteren Entwicklung sein. Es kann scheinen, als schritte dieser Fortgang ins Unendliche. Er hat aber auch ein absolutes Ziel, was wir späterhin weiter erkennen werden. Es sind viele Wendungen nötig, ehe der Geist, zum Bewußtsein seiner kommend, sich befreit. Nach dieser allein würdigen Ansicht von der Geschichte der Philosophie ist der Tempel der selbstbewußten Vernunft zu betrachten. Es ist daran vernünftig gebaut, durch inneren Werkmeister; nicht etwa, wie die Juden oder Freimaurer am salomonischen bauen.

Die große Präsumtion, daß es auch nach dieser Seite in der Welt vernünftig zugegangen – was der Geschichte der Philosophie erst wahrhaftes Interesse gibt –, ist dann nichts anderes als der Glaube an die Vorsehung, nur in anderer Weise. Das Beste in der Welt ist, was der Gedanke hervorbringt. Daher ist es unpassend, wenn man glaubt, nur in der Natur sei Vernunft, nicht im Geistigen. Demjenigen, welcher die Begebenheiten im Gebiete des Geistes – und das sind die Philosophien – für Zufälligkeiten hält, ist es nicht Ernst mit dem Glauben an eine göttliche Weltregierung, und sein Glaube an die Vorsehung ist ein leeres Gerede.

Es ist allerdings eine lange Zeit – und die Länge der Zeit ist es, die auffallen kann –, welche der Geist dazu braucht, sich die Philosophie zu erarbeiten. Wenn man sich aber überhaupt über die Länge der Zeit verwundert, so kann die[54] Länge allerdings etwas Auffallendes für die nächste Reflexion haben, gleichwie die Größe der Räume, von denen in der Astronomie gesprochen wird. Was die Langsamkeit des Weltgeistes betrifft, so ist zu bedenken, daß er nicht pressiert ist, nicht zu eilen und Zeit genug hat – »tausend Jahre sind vor Dir wie ein Tag«; er hat Zeit genug, eben weil er selbst außer der Zeit, weil er ewig ist. Die übernächtigen Ephemeren haben zu so vielen ihrer Zwecke nicht Zeit genug; wer stirbt nicht, ehe er mit seinen Zwecken fertig geworden? Er hat nicht nur Zeit genug, – es ist nicht Zeit allein, die auf die Erwerbung eines Begriffes zu verwenden ist, es kostet noch viel anderes. Daß er ebenso viele Menschengeschlechter und Generationen an diese Arbeiten seines Bewußtwerdens wendet, daß er einen ungeheuren Aufwand des Entstehens und Vergehens macht – darauf kommt es ihm auch nicht an. Er ist reich genug für solchen Aufwand, er treibt sein Werk im Großen, er hat Nationen und Individuen genug zu depensieren. Es ist ein trivialer Satz: Die Natur kommt auf dem kürzesten Weg zu ihrem Ziel. Dies ist richtig; aber der Weg des Geistes ist die Vermittlung, der Umweg. Zeit, Mühe, Aufwand – solche Bestimmungen aus dem endlichen Leben gehören nicht hierher. Wir dürfen auch nicht ungeduldig werden, daß die besonderen Einsichten nicht schon jetzt ausgeführt werden können, nicht dies oder jenes schon da ist; in der Weltgeschichte gehen die Fortschritte langsam.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 18, Frankfurt am Main 1979, S. 50-55.
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