c. Nähere Vergleichung der Geschichte der Philosophie mit der Philosophie selbst

[58] Wir können uns den ganzen in der Zeit verteilten Reichtum zu eigen machen. In der Reihe der Philosophien muß darauf hingewiesen werden, wie sie die Systematisierung der philosophischen[58] Wissenschaft selber ist. Man kann meinen, daß die Philosophie in den Stufen der Idee eine andere Ordnung haben müsse als die Ordnung, in welcher in der Zeit diese Begriffe hervorgegangen sind. Im ganzen ist die Ordnung dieselbe. Ein Unterschied ist aber hierbei noch zu bemerken. Den Anfang macht das, was an sich ist, das Unmittelbare, Abstrakte, Allgemeine, was noch nicht fortgeschritten ist. Das Konkretere, Reichere ist das Spätere; das Erste ist das Ärmste an Bestimmungen. Es kann dies der nächsten Vorstellung entgegengesetzt scheinen, aber philosophische Vorstellungen sind ebensooft das gerade Gegenteil, was man meint, wie man es in der gewöhnlichen Vorstellung hat, – aber diese nicht finden will. Man könnte denken, das Erste sei das Konkrete. So ist das Kind, als noch in der ursprünglichen Totalität seiner Natur, konkreter. Der Mann ist beschränkt, nicht mehr diese Totalität, er lebt ein abstrakteres Leben, – stellen wir uns vor. Der Mann handelt nach bestimmten Zwecken, nicht mit ganzer Seele und ganzem Gemüt, sondern zersplittert sich in eine Menge von abstrakten Einzelheiten; das Kind, der Jüngling handeln aus voller Brust. Gefühl und Anschauung ist das Erste, das Denken das Letzte; so scheint uns auch das Gefühl konkreter als das Denken, die Tätigkeit der Abstraktion, des Allgemeinen. In der Tat ist es aber umgekehrt. Das sinnliche Bewußtsein ist freilich überhaupt konkreter und, wenn auch das ärmste an Gedanken, doch das reichste an Inhalt. Wir müssen also das natürliche Konkrete vom Konkreten des Gedankens unterscheiden, welches seinerseits wieder arm an Sinnlichkeit ist. Das Kind ist auch das Abstrakteste, das Ärmste an Gedanken; mit dem Natürlichen verglichen ist der Mann abstrakt, als Denken ist er aber konkreter als das Kind. Der Zweck des Mannes ist allerdings abstrakt, als von allgemeiner Art, z.B. seine Familie zu ernähren oder Amtsgeschäfte zu verrichten; aber er trägt zu einem großen objektiven, organischen Ganzen bei, befördert es, steht ihm vor, – da in den Handlungen des Kindes nur ein kindisches Ich, und zwar[59] momentan, in den Handlungen des Jünglings Hauptzweck seine subjektive Bildung ist oder ein Schlagen ins Blaue. So ist die Wissenschaft konkreter als die Anschauung.

Dieses angewendet auf die verschiedenen Gestaltungen der Philosophie, so folgt daraus erstens, daß die ersten Philosophien die ärmsten und abstraktesten sind; die Idee ist bei ihnen am wenigsten bestimmt, sie halten sich nur in Allgemeinheiten, sind nicht erfüllt. Dies muß man wissen, um nicht hinter den alten Philosophien mehr zu suchen, als man darin zu finden berechtigt ist. Wir dürfen daher nicht Bestimmungen von ihnen fordern, die einem tieferen Bewußtsein zukommen. So hat man z.B. die Fragen gemacht, ob die Philosophie des Thales eigentlich Theismus oder Atheismus gewesen sei, ob er einen persönlichen Gott oder bloß ein unpersönliches allgemeines Wesen behauptet habe. Hier kommt es auf die Bestimmung der Subjektivität der höchsten Idee, den Begriff der Persönlichkeit Gottes an. Solche Subjektivität, wie wir sie fassen, ist ein viel, viel reicherer, intensiverer und darum viel späterer Begriff, der in der älteren Zeit überhaupt nicht zu suchen ist. In der Phantasie und Vorstellung hatten die griechischen Götter wohl Persönlichkeit, wie der eine Gott in der jüdischen Religion; aber es ist ein ganz anderes, was Vorstellung der Phantasie oder was Erfassen des reinen Gedankens und des Begriffs ist. Legen wir unsere Vorstellung zugrunde, so kann, nach dieser tieferen Vorstellung gemessen, eine alte Philosophie dann als Atheismus allerdings mit Recht ausgesprochen werden. Ebenso ist dieser Ausspruch aber auch falsch, da die Gedanken als Gedanken des Anfangs noch nicht die Entwicklung haben konnten, zu der wir gekommen sind. Tiefe scheint auf Intension zu deuten, aber je intensiver der Geist ist, desto extensiver ist er, desto mehr hat er sich ausgebreitet. Das Größere ist hier die Stärke des Gegensatzes, der Trennung; die größere Macht überwindet die größere Trennung.[60]

An diese Folge schließt sich unmittelbar an, daß – indem der Fortgang der Entwicklung weiteres Bestimmen und dies ein Vertiefen und Erfassen der Idee in sich selbst ist – somit die späteste, jüngste, neueste Philosophie die entwickeltste, reichste und tiefste ist. In ihr muß alles, was zunächst als ein Vergangenes erscheint, aufbewahrt und enthalten, sie muß selbst ein Spiegel der ganzen Geschichte sein. Das Anfängliche ist das Abstrakteste, weil es das Anfängliche ist, sich noch nicht fortbewegt hat; die letzte Gestalt, die aus dieser Fortbewegung als einem fortgehenden Bestimmen hervorgeht, ist die konkreteste. Es ist dies, wie zunächst bemerkt werden kann, weiter keine Präsumtion der Philosophie unserer Zeit; denn es ist eben der Geist dieser ganzen Darstellung, daß die weitergebildete Philosophie einer späteren Zeit wesentlich Resultat der vorhergehenden Arbeiten des denkenden Geistes ist, daß sie gefordert, hervorgetrieben von diesen früheren Standpunkten, nicht isoliert für sich aus dem Boden gewachsen ist.

Das andere, was hierbei noch zu erinnern ist, ist, daß man sich nicht hüten muß, dies, was in der Natur der Sache ist, zu sagen, daß die Idee, wie sie in der neuesten Philosophie gefaßt und dargestellt ist, die entwickeltste, reichste, tiefste ist. Diese Erinnerung mache ich deswegen, weil neue, neueste, allerneueste Philosophie ein sehr geläufiger Spitzname geworden ist. Diejenigen, die mit solcher Benennung etwas gesagt zu haben meinen, können um so leichter die vielen Philosophien kreuzigen und segnen, je mehr sie geneigt sind, entweder nicht nur jede Sternschnuppe, sondern auch jede Kerzenschnuppe für eine Sonne anzusehen oder auch jedes Geschwöge für eine Philosophie auszuschreien und zum Beweise anzuführen wenigstens dafür, daß es so viele Philosophien gebe und täglich eine die gestrige verdränge. Sie haben damit zugleich die Kategorie gefunden, in welche sie eine Bedeutung zu gewinnen scheinende Philosophie versetzen können, durch welche sie sogleich damit fertig geworden sind; sie heißen sie eine Modephilosophie.[61]

Lächerlicher, du nennst dies Mode, wenn immer von neuem Sich der menschliche Geist ernstlich nach Bildung bestrebt.


Eine zweite Folge betrifft die Behandlung der älteren Philosophien. Jene Einsicht hält uns ebenso ab, ihnen nicht etwa Schuld zu geben, bei ihnen Bestimmungen zu vermissen, die für ihre Bildung noch gar nicht vorhanden waren, – ebenso sie nicht mit Konsequenzen und Behauptungen zu belasten, die von ihnen gar nicht gemacht und gedacht waren, wenn sie sich schon richtig aus dem Gedanken einer solchen Philosophie ableiten ließen. Man muß nur historisch zu Werke gehen, nur dies ihr zuschreiben, was uns unmittelbar angegeben wird. In den meisten Geschichten der Philosophie kommen hier Unrichtigkeiten vor, indem wir darin einem Philosophen eine Menge von metaphysischen Sätzen können zugeschrieben sehen, eine Anführung, die als geschichtliche Angabe von Behauptungen gelten soll, die er gemacht habe, – an die er nicht gedacht, von denen er kein Wort gewußt, nicht die geringste historische Spur sich findet. In Bruckers großer Geschichte der Philosophie sind so von Thales und von anderen eine Reihe von dreißig, vierzig, hundert Philosophemen angeführt, von denen sich historisch auch kein Gedanke bei solchen Philosophen gefunden hat, – Sätze, auch Zitationen dazu aus Räsonneurs ähnlichen Gelichters, wo wir lange suchen können. Bruckers Prozedur ist nämlich das einfache Philosophem eines Alten mit allen den Konsequenzen und Vordersätzen auszustatten, welche nach der Vorstellung Wolffischer Metaphysik Vorder- und Nachsätze jenes Philosophems sein müßten, und eine solche reine, bare Andichtung so unbefangen aufzuführen, als ob sie ein wirkliches historisches Faktum wäre. Es liegt nur gar zu nahe, die alten Philosophen in unsere Form der Reflexion umzuprägen.[62] Gerade dies macht aber den Fortgang der Entwicklung aus. Der Unterschied der Zeiten, der Bildung und der Philosophien besteht gerade darin, ob solche Reflexionen, solche Gedankenbestimmungen und Verhältnisse des Begriffes ins Bewußtsein herausgetreten waren, – ein Bewußtsein so weit entwickelt worden war oder nicht. Es handelt sich in der Geschichte der Philosophie nur um diese Entwicklung und Heraussetzung der Gedanken. Die Bestimmungen folgen richtig aus einem Satze; es ist aber etwas ganz anderes, ob sie schon herausgesetzt sind oder nicht; auf das Heraussetzen des innerlich Enthaltenen kommt es allein an.

Wir müssen daher nur die eigensten Worte gebrauchen; das Entwickeln sind fernere Gedankenbestimmungen, die noch nicht zum Bewußtsein jenes Philosophen gehören. So sagt Aristoteles, Thales habe gesagt, das Prinzip (archê) aller Dinge sei das Wasser. Anaximander aber soll erst archê gebraucht haben; so hat Thales noch nicht diese Gedankenbestimmung gehabt; er kannte archê als Anfang in der Zeit, aber nicht als das Zugrundeliegende. Thales führte nicht einmal die Gedankenbestimmung von Ursache in seine Philosophie ein; erste Ursache ist aber eine noch weitere Bestimmung. So gibt es ganze Völker, die diesen Begriff noch gar nicht haben; dazu gehört eine große Stufe der Entwicklung. Und wenn schon im allgemeinen der Unterschied der Bildung in dem Unterschiede der Gedankenbestimmungen besteht, die heraus sind, so muß dies bei den Philosophien noch mehr der Fall sein. So soll nach Brucker Thales gesagt haben: Ex nihilo nihil fit; denn Thales sagt, das Wasser sei ewig; so wäre er also unter die Philosophen zu rechnen, welche die Schöpfung aus dem Nichts leugnen. Davon hat Thales aber – geschichtlich wenigstens – nichts gewußt. Auch Herr Professor [Heinrich] Ritter, dessen Geschichte der ionischen Philosophie fleißig geschrieben ist und der darin im ganzen mäßig ist, nicht Fremdes hineinzutragen,[63] hat dem Thales doch vielleicht mehr zugeschrieben, als geschichtlich ist. Er sagt (S. 12 ff.): »Daher müssen wir die Betrachtung der Natur, welche wir bei Thales finden, durchaus als eine dynamische ansehen. Er betrachtete die Welt als das alles umfassende lebendige Tier, welches aus einem Samen sich entwickelt habe wie alle Tiere, der auch, wie bei allen Tieren, feucht sei oder Wasser. Die Grundanschauung des Thales also ist die, daß die Welt ein lebendiges Ganzes sei, welches sich aus einem Keime entwickelt habe und nach Art der Tiere fortlebe durch eine seinem ursprünglichen Wesen angemessene Nahrung« (vgl. S. 16). Das ist etwas ganz anderes, als was Aristoteles sagt. Von allem diesem ist bei den Alten über Thales nichts gemeldet. Diese Konsequenz liegt nahe, aber geschichtlich läßt sie sich nicht rechtfertigen. Wir dürfen nicht aus einer alten Philosophie durch dergleichen Schlüsse etwas ganz anderes machen, als sie ursprünglich ist.

Drittens. Wie nun im logischen System des Denkens jede Gestaltung desselben ihre Stelle hat, auf der sie allein Gültigkeit hat und durch die weiter fortschreitende Entwicklung zu einem untergeordneten Momente herabgesetzt wird, so ist auch jede Philosophie im ganzen des Ganges eine besondere Entwicklungsstufe und hat ihre bestimmte Stelle, auf der sie ihren wahrhaften Wert und Bedeutung hat. Nach dieser Bestimmung ist ihre Besonderheit wesentlich aufzufassen und nach dieser Stelle anzuerkennen, um ihr ihr Recht widerfahren zu lassen. Ebendeswegen muß auch nicht mehr von ihr gefordert und erwartet werden, als sie leistet. Es ist in ihr die Befriedigung nicht zu suchen, die nur von einer weiter entwickelten Erkenntnis gewährt werden kann. Wir müssen nicht glauben, die Fragen unseres Bewußtseins, die Interessen der jetzigen Welt bei den Alten beantwortet zu finden. Solche Fragen setzen gewisse Bildung des Gedankens voraus. Jede Philosophie eben darum, weil sie die Darstellung einer besonderen Entwicklungsstufe ist, gehört ihrer Zeit an und ist in ihrer Beschränktheit befangen. Das[64] Individuum ist Sohn sei nes Volkes, seiner Welt. Der Einzelne mag sich aufspreizen, wie er will, er geht nicht über sie hinaus, denn er gehört dem einen allgemeinen Geiste an, der seine Substanz und Wesen ist; wie sollte er aus diesem herauskommen? Derselbe allgemeine Geist ist es, der von der Philosophie denkend erfaßt wird; sie ist sein Denken seiner selbst und ist somit sein bestimmter substantieller Inhalt. Jede Philosophie ist Philosophie ihrer Zeit, sie ist Glied in der ganzen Kette der geistigen Entwicklung; sie kann also nur Befriedigung für die Interessen gewähren, die ihrer Zeit angemessen sind.

Aus diesem Grunde aber befriedigt den Geist, in dem nun ein tiefer bestimmter Begriff lebt, eine frühere Philosophie nicht. Was er in ihr finden will, ist dieser Begriff, der bereits seine innere Bestimmung und die Wurzel seines Daseins ausmacht, als Gegenstand für das Denken erfaßt; er will sich selbst erkennen. Aber in dieser Bestimmtheit ist die Idee in der früheren Philosophie noch nicht vorhanden. Deswegen leben wohl die platonische, aristotelische usf. Philosophie, alle Philosophien zwar immer und gegenwärtig noch in ihren Prinzipien; aber in dieser Gestalt und Stufe, auf der die platonische und aristotelische Philosophie war, ist die Philosophie nicht mehr. Wir können nicht bei ihnen stehenbleiben, sie können nicht wiedererweckt werden. Es kann deswegen heutigentages keine Platoniker, Aristoteliker, Stoiker, Epikureer mehr geben. Sie wiedererwecken hieße, den gebildeteren, tiefer in sich gegangenen Geist auf eine frühere Stufe zurückbringen wollen. Das läßt er sich aber nicht gefallen; das würde ein Unmögliches, ein ebenso Törichtes sein, als wenn der Mann sich Mühe geben wollte, sich auf den Standpunkt des Jünglings zu versetzen, der Jüngling, wieder Knabe oder Kind zu sein, – obgleich der Mann, Jüngling und Kind ein und dasselbe Individuum ist. Die Zeit der Wiederauflebung der Wissenschaften, die neue Epoche des Wissens, die sich im 15. und 16. Jahrhundert aufgetan hat, hat nicht nur mit dem wiederaufgeweckten[65] Studium, sondern auch mit der Aufwärmung der alten Philosophien angefangen. Marsilius Ficinus war ein Platoniker; von Cosmus Medicis ward sogar eine Akademie der platonischen Philosophie (mit Professoren) eingesetzt und Ficinus an ihre Spitze gestellt. So gab es reine Aristoteliker, wie Pomponatius; Gassendi hat später die epikureische Philosophie aufgestellt, epikureisch in der Physik philosophierend; Lipsius wollte ein Stoiker sein usf. Man hatte überhaupt die Ansicht des Gegensatzes: alte Philosophie und Christentum – aus und in diesem hatte sich noch keine eigentümliche Philosophie entwickelt – sei so zweierlei, daß sich im Christentum keine eigentümliche Philosophie entwickeln könne, sondern was man beim oder gegen das Christentum für Philosophie hatte und haben könne, sei eine jener alten Philosophien, die in diesem Sinne wieder aufgenommen würden. Aber Mumien, unter das Lebendige gebracht, können unter diesem nicht aushalten. Der Geist hatte längst ein substantielleres Leben in sich, trug einen tieferen Begriff seiner selbst längst in sich und hatte somit ein höheres Bedürfnis für sein Denken, als jene Philosophien befriedigten. Ein solches Aufwärmen ist daher nur als der Durchgangspunkt des Sich-Einlernens in bedingende, vorausgehende Formen, als ein nachgeholtes Durchwandern durch notwendige Bildungsstufen anzusehen; wie solches in einer fernen Zeit Nachmachen und Wiederholen (Wiederlernen) solcher dem Geiste fremd gewordenen Prinzipien in der Geschichte als eine vorübergehende, ohnehin auch in einer erstorbenen Sprache gemachte Erscheinung auftritt. Dergleichen sind nur Übersetzungen, keine Originale, und der Geist befriedigt sich nur in der Erkenntnis seiner eigenen Ursprünglichkeit.

Wenn die neuste Zeit gleichfalls wieder aufgerufen wird, zum Standpunkt einer alten Philosophie zurückzukehren, wie man insbesondere die platonische Philosophie dazu näher als Rettungsmittel, um aus allen den Verwicklungen der folgenden Zeiten herauszukommen, empfahlen hat, so ist solche Rückkehr nicht jene unbefangene Erscheinung des[66] ersten Wiederein lernens; sondern dieser Rat der Bescheidenheit hat dieselbe Quelle als das Ansinnen an die gebildete Gesellschaft, zu den Wilden der nordamerikanischen Wälder, ihren Sitten und den entsprechenden Vorstellungen zurückzukehren, und als die Anempfehlung der Religion Melchisedeks, welche Fichte einmal (ich glaube in seiner Bestimmung des Menschen) als die reinste und einfachste und damit als diejenige aufgewiesen hat, zu der wir zurückkommen müssen. Es ist einerseits in solchem Rückschreiten die Sehnsucht nach einem Anfang und festen Ausgangspunkt nicht zu verkennen; allein dieser ist in dem Denken und der Idee selbst, nicht [in] einer autoritätsartigen Form zu suchen. Andererseits kann solche Zurückweisung des entwickelten, reichgewordenen Geistes auf solche Einfachheit – d.h. auf ein Abstraktum, einen abstrakten Zustand oder Gedanken -nur als die Zuflucht der Ohnmacht angesehen werden, welche dem reichen Material der Entwicklung, das sie vor sich sieht und das eine Anforderung ist, vom Denken bewältigt und zur Tiefe zusammengefaßt zu werden, nicht genügen zu können fühlt und ihre Hilfe in der Flucht vor demselben und in der Dürftigkeit sucht.

Aus dem Gesagten erklärt sich, warum so mancher – der (es sei durch solche besondere Empfehlung veranlaßt oder überhaupt von dem Ruhm eines Platon oder der alten Philosophie im allgemeinen angezogen) an dieselbe geht, um sich seine eigene Philosophie so aus den Quellen zu schöpfen – sich durch solches Studium nicht befriedigt findet und ungerechtfertigt von dannen geht. Es ist nur bis zu einem gewissen Grade Befriedigung darin zu finden. Man muß wissen, was man in den alten Philosophen oder in der Philosophie jeder anderen bestimmten Zeit zu suchen hat, oder wenigstens wissen, daß man in solcher Philosophie eine bestimmte Entwicklungsstufe des Denkens vor sich hat und in ihr nur diejenigen[67] Formen und Bedürfnisse des Geistes zum Bewußtsein gebracht sind, welche innerhalb der Grenzen einer solchen Stufe liegen. In dem Geiste der neueren Zeit schlummern tiefere Ideen, die, um sich wach zu wissen, einer anderen Umgebung und Gegenwart bedürfen als jene abstrakten, unklaren, grauen Gedanken der alten Zeit. In Platon z.B. finden die Fragen über die Natur der Freiheit, den Ursprung des Übels und des Bösen, die Vorsehung usf. nicht ihre philosophische Erledigung. Man kann über solche Gegenstände sich wohl teils populäre fromme Ansichten aus seinen schönen Darstellungen holen, teils aber den Entschloß, dergleichen philosophisch ganz auf der Seite liegenzulassen oder aber das Böse, die Freiheit nur als etwas Negatives zu betrachten. Aber weder das eine noch das andere ist befriedigend für den Geist, wenn dergleichen Gegenstände einmal für ihn sind, wenn der Gegensatz des Selbstbewußtseins [in] ihm die Stärke erreicht hat, um in solche Interessen vertieft zu sein. Ebenso verhält es sich mit den Fragen über das Erkenntnisvermögen, über den Gegensatz von Subjektivität und Objektivität, der zu Platons Zeit noch nicht vorhanden war. Die Selbständigkeit des Ich in sich, sein Fürsichsein war ihm fremd. Der Mensch war noch nicht so in sich zurückgegangen, hatte sich noch nicht für sich gesetzt. Das Subjekt war freilich freies Individuum, es wußte sich aber nur in der Einheit mit seinem Wesen. Der Athener wußte sich frei, ein römischer Bürger, ein ingenuus war frei. Daß aber der Mensch an und für sich frei sei, seiner Substanz nach, als Mensch frei geboren – das wußte weder Platon noch Aristoteles, weder Cicero noch die römischen Rechtslehrer, obgleich dieser Begriff allein die Quelle des Rechts ist. Erst in dem christlichen Prinzip ist wesentlich der individuelle persönliche Geist von unendlichem, absolutem Werte; Gott will, daß allen Menschen geholfen werde. In der christlichen Religion kam die Lehre auf, daß vor Gott alle Menschen frei, daß Christus die Menschen befreit hat, sie vor Gott gleich, zur christlichen Freiheit befreit sind. Diese Bestimmungen[68] machen die Freiheit unabhängig von Geburt, Stand, Bildung usf., und es ist ungeheuer viel, was damit vorgerückt worden ist; aber sie sind noch verschieden von dem, daß es den Begriff des Menschen ausmacht, ein Freies zu sein. Das Gefühl dieser Bestimmung hat Jahrhunderte, Jahrtausende lang getrieben, die ungeheuersten Umwälzungen hat dieser Trieb hervorgebracht; aber der Begriff, die Erkenntnis, daß der Mensch von Natur frei ist, dies Wissen seiner selbst ist nicht alt.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 18, Frankfurt am Main 1979, S. 58-69.
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