Erstes Kapitel.

Von Thales bis Anaxagoras

[189] Indem wir von dieser Epoche nur Überlieferungen und Fragmente besitzen, so können wir hier von den Quellen sprechen.[189]

a) Die erste Quelle ist Platon, der häufig der älteren Philosophen erwähnt. Indem er die früher selbständig auftretenden Philosophien, die nicht soweit auseinanderliegen, sobald ihr Begriff bestimmter gefaßt wird, zu konkreten Momenten einer Idee machte, so erscheint Platons Philosophie oft als entwickelteres Vortragen der Lehren älterer Philosophen und zieht sich den Vorwurf des Plagiats zu. Er ließ es sich viel Geld kosten, die Schriften älterer Philosophen herbeizuschaffen, und bei seinem tiefen Studium derselben sind seine Anführungen von Wichtigkeit. Allein indem er in seinen Schriften nie selbst als Lehrer auftritt, sondern immer andere Personen in seinen Dialogen als philosophierend darstellt, so ist in seinen Darstellungen nicht geschieden, was geschichtlich ihnen angehöre und welche Entwicklungen er selbst ihren Gedanken gegeben hat. So im Parmenides ist eleatische Philosophie; die weitere Entwicklung dieser Lehre ist ihm eigentümlich.

b) Aristoteles ist die reichhaltigste Quelle. Er hat die älteren Philosophen ausdrücklich und gründlich studiert und im Beginne seiner Metaphysik vornehmlich (auch sonst vielfach) der Reihe nach von ihnen geschichtlich gesprochen. Er ist so philosophisch wie gelehrt; wir können uns auf ihn verlassen. Für die griechische Philosophie ist nichts Besseres zu tun, als das erste Buch seiner Metaphysik vorzunehmen. Wenn auch der gelehrt sein wollende Scharfsinn gegen Aristoteles spricht und behauptet, daß er den Platon nicht richtig aufgefaßt habe, so ist zu entgegnen, daß, da er mit Platon selbst umgegangen ist, bei seinem tiefen gründlichen Geist ihn vielleicht niemand besser kennt.

c) Cicero kann uns auch hier einfallen, obgleich er schon eine trübere Quelle ist, weil er zwar viele Nachrichten enthält; aber da es ihm überhaupt an philosophischem Geiste fehlte so hat er die Philosophie mehr nur geschichtlich zu nehmen verstanden. Er scheint nicht die Quellen selbst studiert zu haben, gesteht selbst, daß er z.B. Heraklit nicht verstanden habe; und weil ihn diese alte und tiefe Philosophie nicht[190] interessierte, gab er sich nicht die Mühe, sich hineinzustudieren. Seine Nachrichten beziehen sich vornehmlich auf die Neueren: Stoiker, Epikureer, neue Akademie, Peripatetiker. Er sah das Alte durch deren Medium und überhaupt durch ein Medium des Räsonierens, nicht des Spekulierens.

d) Sextus Empiricus, ein späterer Skeptiker, wichtig durch seine Pyrrhoniae Hypotyposes und Adversus mathematicos. Indem er als Skeptiker teils die dogmatischen Philosophien bekämpft, teils andere Philosophen als Zeugnisse für den Skeptizismus anführt (so daß der allergrößte Teil seiner Schriften mit Lehrsätzen anderer Philosophen angefüllt ist), so ist er auf diese Weise die fruchtbarste Quelle für die Geschichte der alten Philosophie geworden. Viele kostbare Fragmente hat er uns erhalten.

e) Diogenes Laertios. Sein Buch (De clarorum philosophorum vitis, ed. Meibom. c. notis Menagii Amstel. 1692) ist eine wichtige Kompilation; er führt seine Zeugen häufig ohne viel Kritik an. Philosophischen Geist kann man ihm nicht zuschreiben. Er treibt sich mit äußerlichen schlechten Anekdoten herum. Fürs Leben der Philosophen, hier und da für die Philosopheme, ist er wichtig.

f) Simplicius, ein späterer Grieche aus Kilikien unter Justinian, in der Mitte des 6. Jahrhunderts, der gelehrteste und scharfsinnigste der griechischen Kommentatoren des Aristoteles. Mehreres ist von ihm noch ungedruckt; wir verdanken ihm Verdienstliches.

Weiter will ich keine Quellen angeben; man findet sie ohne Mühe in jedem Kompendium. In dem Gange der griechischen Philosophie pflegte man sonst der Ordnung zu folgen, wie nach der gemeinen Vorstellung ein äußerer Zusammenhang sich zeigte, daß ein Philosoph einen anderen zum Lehrer gehabt haben sollte, – ein Zusammenhang, der sich einesteils von Thales, andernteils von Pythagoras aus sollte aufzeigen lassen. Allein dieser Zusammenhang ist zum Teil selbst unvollkommen, teils ist er etwas Äußeres. Die eine Reihe der philosophischen Sekten, wie der Philosophen zusammen,[191] die man zu einem Systeme rechnete – die von Thales ausgeht –, läuft weit herab in der Zeit und im Geiste getrennt von der anderen fort. Allein so isoliert geht keine Reihe (wenn sie auch eine Reihe der Aufeinanderfolge und jenes äußeren Zusammenhangs als Lehrer und Zuhörer gemacht hätten, was sie nicht tun) in Wahrheit fort; sondern der Geist hat eine ganz andere Ordnung. Jene Reihen greifen sowohl dem Geiste nach als dem bestimmten Inhalt nach ineinander ein.

Zuerst begegnet uns Thales im ionischen Volke, zu dem die Athener gehörten oder von denen die kleinasiatischen Ionier überhaupt ihren Ursprung herhatten. Der ionische Stamm erscheint früher im Peloponnes, scheint daraus verdrängt; es ist aber unbekannt, welche Völkerschaften zu ihm gehörten, da die anderen Ionier und selbst die Athenienser diesen Namen ablegten. Nach Thukydides (I, 2) stammten die ionischen Kolonien in Kleinasien überhaupt meist aus Athen her. Die größte Regsamkeit des griechischen Lebens sehen wir an den Küsten von Kleinasien und auf den griechischen Inseln und dann gegen Westen im griechischen Italien (Großgriechenland); wir sehen unter diesen Völkern durch innere politische Tätigkeit und Verkehr mit fremden Völkern eine Verwicklung und Mannigfaltigkeit ihrer Verhältnisse entstehen, worin sich die Beschränktheit abreibt und das Allgemeine sich über sie erhebt. Diese zwei Punkte, Ionien und Großgriechenland, sind die beiden Lokalitäten, wo diese erste Periode der Geschichte der Philosophie spielt, bis sie am Ende derselben im eigentlichen Griechenland sich aufpflanzt und heimisch wird. Jene Punkte waren Sitz des früheren Handels und Bildung; das eigentliche Griechenland ist in dieser Rücksicht später.

Es ist so zu bemerken, daß es zwei Seiten sind, der Osten und der Westen, in welche sich diese Philosophien unterscheiden; die eine Partie sind Kleinasiaten, die anderen[192] Okzidentalen, griechische Italier. Geographisch teilt sich die Philosophie in die ionische und italische Philosophie; der Charakter (Inhalt) der Philosophien teilt den Charakter des geographischen Unterschiedes. Auf der Seite von Kleinasien, zum Teil auch auf den Inseln, ist zu Hause: Thales, Anaximander, Anaximenes, Heraklit, Leukipp, Demokrit, Anaxagoras, Diogenes aus Kreta. Andererseits sind Italer: Pythagoras aus Samos, der aber in Italien lebte, Xenophanes, Parmenides, Zenon, Empedokles; von den Sophisten lebten ebenso mehrere in Italien. Erst Anaxagoras kommt nach Athen; und so nimmt aus beiden Extremen die Wissenschaft in der Mitte sich zusammen und macht Athen zum Hauptsitz. Dies ist der geographische Unterschied; der zweite ist in der Darstellung des Gedankens. Bei den Orientalen ist eine sinnliche, materielle Seite vorherrschend; im Abendlande ist der Gedanke überwiegend, er wird in der Gedankenform zum Prinzip gemacht. Jene Philosophen haben, nach dem Morgenlande gekehrt, das Absolute in einer Naturbestimmung erkannt; die reale Bestimmung des Absoluten fällt dahin. Nach Italien fällt die ideale Bestimmung des Absoluten. Man kann mit diesen Bestimmungen hier auskommen. Empedokles, den wir in Sizilien haben, ist mehr Naturphilosoph; Gorgias, der Sophist aus Sizilien, hat die ideale Seite der Philosophie.

Näher haben wir hier zu betrachten: A. die Ionier: Thales, Anaximander, Anaximenes; B. Pythagoras und seine Schüler; C. die Eleaten: Xenophanes, Parmenides usw.; D. Heraklit; E. Empedokles, Leukipp und Demokrit; F. Anaxagoras.

Auch in dieser Philosophie ist der Fortgang zu finden und aufzuzeigen. Die ersten ganz abstrakten Bestimmungen sind bei Thales und den anderen Ioniern; sie haben das Allgemeine in Form einer Naturbestimmung gefaßt: Wasser, Luft. Der Fortgang muß dann sein, daß diese bloß unmittelbare Naturbestimmung verlassen wird. Dieses treffen wir bei den Pythagoreern; sie sagen: die Zahl ist die Substanz, das[193] Wesen der Dinge. Die Zahl ist nicht sinnlich, auch nicht der reine Gedanke: ein unsinnliches Sinnliches. Das Eins ist die Form der Bestimmung, aber es geht schon auseinander in 1, 2, 3 usw.; die Bestimmung dessen, was an und für sich ist, geht so dem Konkreten zu. Bei den Eleaten geschieht nun die gewaltsame, reine Losreißung des Gedankens von der sinnlichen Form und der Form der Zahl, – das Hervortreten des reinen Gedankens. Und von ihnen tut sich die dialektische Bewegung des Denkens auf, die das Bestimmte negiert, um zu zeigen, daß nicht das Viele wahrhaft sei, sondern nur das Eine. Heraklit spricht das Absolute als diesen Prozeß selbst aus, was bei den Eleaten dieser subjektive Prozeß ist. Er ist zum objektiven Bewußtsein gekommen; das Absolute ist hier, was bewegt, was verändert. Empedokles, Leukipp und Demokrit gehen dagegen vielmehr wieder in das andere Extrem, zum einfachen, materiellen, ruhenden Prinzip über – so daß die Bewegung, der Prozeß davon unterschieden sei –, zu Substraten des Prozesses. Bei Anaxagoras ist es dann der bewegende, sich selbst bestimmende Gedanke selbst, der als das Wesen erkannt wird; dies ist ein großer Fortschritt.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 18, Frankfurt am Main 1979, S. 189-194.
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