3. Der Prozess als allgemeiner und sein Verhältnis zum Bewußtsein

[337] Es fehlt nur dieses noch an der Idee, daß ihr Wesen, ihre Einfachheit als Begriff, als Allgemeinheit erkannt werde. Man kann vermissen, daß nichts Dauerndes, Ruhendes ist, – was Aristoteles gibt. Der Prozeß ist noch nicht als Allgemeines aufgefaßt. Heraklit sagt zwar, es fließt alles, es ist nichts bestehend, nur das Eine bleibt. Es ist damit aber noch nicht die Wahrheit, Allgemeinheit ausgesprochen; es ist der Begriff der seienden Einheit im Gegensatze, nicht der in sich reflektierten. Dies Eins in seiner Einheit mit der Bewegung, dem Prozesse der Individuen ist das Allgemeine, Gattung, Verstand oder der in seiner Unendlichkeit einfache Begriff als Gedanke; als dieses ist die Idee noch zu bestimmen, – nous des Anaxagoras. Das Allgemeine ist die unmittelbare einfache Einheit in dem Gegensatze, als Prozeß Unterschiedener in sich zurückgehend. Aber auch dies findet sich bei Heraklit. Dieses Allgemeine, diese Einheit in dem Gegensatze – Sein und Nichtsein als dasselbe – nannte Heraklit »Schicksal (heimarmenê), Notwendigkeit«. Und der Begriff der Notwendigkeit ist kein anderer als eben dieser, daß das Seiende als Bestimmtes in dieser Bestimmtheit ist, was es ist (diese sein Wesen als eines Einzelnen ausmacht), aber eben dadurch sich auf sein Entgegengesetztes bezieht, – das absolute »Verhältnis, welches durch das Sein des Ganzen hindurchgeht (logos ho dia tês ousias tou pantos diêkôn)«. Er nennt dies »den ätherischen Leib, den Samen des Werdens von allem (aitherion sôma tês tou pantos geneseôs)«. Das ist ihm die Idee, Allgemeines als solches, als das Wesen; es[337] ist der beruhigte Prozeß, – Tiergattung ist das Bleibende, der sich aufnehmende (in sich zurücknehmende), einfache Prozeß.

Es ist nun noch übrig zu betrachten, welches Verhältnis Heraklit diesem Wesen (der Welt, dem, was ist) zum Bewußtsein, zum Denken gibt. Seine Philosophie hat im ganzen eine naturphilosophische Weise; das Prinzip ist zwar logisch, aber in seiner natürlichen Weise als der allgemeine Naturprozeß aufgefaßt. Wie kommt der logos zum Bewußtsein? Wie verhält er sich zur individuellen Seele? Ich führe dies ausführlicher hier an; es ist eine schöne, unbefangene, kindliche Weise, von der Wahrheit wahr zu sprechen, – hier das Allgemeine und die Einheit des Wesens des Bewußtseins und des Gegenstandes und die Notwendigkeit der Gegenständlichkeit.

In Ansehung der Aussagen über das Erkennen sind nun mehrere Stellen von Heraklit aufbewahrt. Es geht aus seinem Prinzipe, daß alles, was ist, zugleich nicht ist, unmittelbar hervor, daß er erklärt, daß die sinnliche Gewißheit keine Wahrheit hat. Denn eben sie ist, für welche das, was ist, als seiend, gewiß ist; – diese Gewißheit ist die, für die etwas besteht, was in der Tat ebenso nicht ist. Dies unmittelbare Sein ist nicht das wahre Sein, sondern die absolute Vermittlung, das gedachte Sein, der Gedanke, – und das Sein erhält hier die Form der Einheit. »Tot ist, was wir wachend sehen, was aber schlafend Traum«, weil, insofern wir sehen, es ein Beharrliches, feste Gestalt. Heraklit sagt über die sinnliche Wahrnehmung in dieser Beziehung: »Schlechte Zeugen sind den Menschen die Augen und die Ohren, sofern sie barbarische Seelen haben. Die Vernunft (logos) ist die Richterin der Wahrheit, nicht aber die nächste beste (hopoiosdêpote), sondern allein die göttliche, allgemeine«, dies Maß, dieser Rhythmus, der durch die Wesenheit[338] des Alls hindurchgeht. Absolute Notwendigkeit ist eben dies, im Bewußtsein das Wahre zu sein, – aber nicht jedes Denken überhaupt, das auf Einzelnes geht, jedes Verhältnis, worin es nur Form ist und den Inhalt der Vorstellung hat, sondern der allgemeine Verstand, entwickeltes Bewußtsein der Notwendigkeit, Identität des Subjektiven und Objektiven. »Viel Wissen lehre den Verstand nicht; sonst hätte es auch den Hesiod, Xenophanes und Pythagoras belehrt. Das Eine sei das Weise, – die Vernunft zu erkennen, die durch alles das Herrschende ist.«

Sextus erzählt näher das Verhältnis des subjektiven Bewußtseins, der besonderen Vernunft zur allgemeinen, zu diesem Naturprozesse. Das hat noch sehr physikalische Gestalt; es ist, wie wir die Besonnenheit auffassen gegen den träumenden oder verrückten Menschen. Der wachende Mensch verhält sich zu den Dingen auf eine allgemeine Weise, welche dem Verhältnisse der Dinge gemäß ist, wie die anderen sich auch dagegen verhalten. Sextus führt uns die Bestimmung hiervon so an: »Alles, was uns umgibt, sei selbst logisch und verständig«, – das allgemeine Wesen der Notwendigkeit. Die Allgemeinheit hat die Form der Besonnenheit; das gegenständliche Wesen, die Objektivität ist verständig, darum nicht – mit Bewußtsein. Wenn und insofern ich in dem objektiv-verständigen Zusammenhang dieser Besonnenheit, Objektivität des Bewußtseins bin, bin ich zwar in der Endlichkeit – als endlicher bin ich in äußerem Zusammenhang, bleibe im Träumen und Wachen im Felde dieses Zusammenhangs –, nur Verstand aber, Besonnenheit, Bewußtsein dieses Zusammenhangs, ohne Schlaf, ist die notwendige Weise dieses Zusammenhangs, die Form der Objektivität, die Idee in der Endlichkeit.

»Wenn wir dies allgemeine Wesen durch das Atmen einziehen, so werden wir verständig; aber nur wachend sind[339] wir so, schlafend sind wir in der Vergessenheit.« Diese Form der Verständigkeit ist das, was wir das Wachsein nennen. Dies Wachsein, dies Bewußtsein der Außenwelt, was zur Verständigkeit gehört, ist mehr ein Zustand und ist hier aber für das Ganze des vernünftigen Bewußtseins genommen. »Denn im Schlafe«, heißt es, »sind die Wege des Gefühls verschlossen, und der Verstand, der in uns, wird abgesondert von seiner Vereinigung mit der Umgebung (tês pros to periechon symphyias), und es erhält sich allein der Zusammenhang (prosphysis) des Atmens gleichsam als nur einer Wurzel« dieses Zusammenhangs (des besonnenen Zustandes), die auch im Schlafe bleibt, – kein spezifiziertes, sondern abstraktes Element. Also dies Atmen ist unterschieden von dem allgemeinen Atmen (symphyia), d.h. dem Sein eines Anderen für uns; die Vernunft ist dieser Prozeß mit dem Objektiven. Weil wir nicht mit dem Ganzen in Zusammenhang sind, so träumen wir nur. »So getrennt, verliert der Verstand die Kraft des Bewußtseins, die er vorher hatte«, – der Geist nur als individuelle Einzelheit die Objektivität; er ist nicht in der Einzelheit allgemein, – Denken, das sich selbst zum Gegenstande hat.

»In den Wachenden aber erhält er (der Verstand) durch die Wege des Gefühls wie durch Fenster hinaussehend und mit dem Umgebenden zusammengehend (symballôn) die logische Kraft«, – Idealismus in seiner Naivität. »Nach der Weise, wie die Kohlen, die dem Feuer nahekommen, selbst feurig werden, getrennt davon aber verlöschen, so wird der Teil (moira)« – die Notwendigkeit (s. oben) –, »der in unseren Körpern von dem Umgebenden beherbergt ist, durch die Trennung fast unvernünftig«, – das Gegenteil von denen, welche meinen, Gott gebe die Weisheit im Schlafe, im Somnambulismus. »In dem Zusammenhange mit den vielen Wegen aber wird sie mit dem Ganzen gleicher Art (homoeidês tô holô kathistatai).« Wachen ist wirkliches, objektives[340] Bewußtsein, Wissen des Allgemeinen, Seienden, und doch darin Fürsichsein.30

»Dieses Ganze, der allgemeine und göttliche Verstand, und in der Einheit mit welchem wir logisch sind, ist das Wesen der Wahrheit bei Heraklit. Daher das, was allgemein allen erscheint, Überzeugung habe, denn es hat teil an dem allgemeinen und göttlichen Logos; was aber einem Einzelnen beifällt, habe keine Überzeugung in sich, aus der entgegengesetzten Ursache. Im Anfange seines Buches über die Natur sagt er: ›Da das Umgebende die Vernunft (logos) ist, so sind die Menschen unvernünftig, sowohl ehe sie hören, als wenn sie zuerst hören. Denn da, was geschieht, nach dieser Vernunft geschieht, so sind sie noch unerfahren, wenn sie die Reden und Werke versuchen, welche ich aufzeige (diêgeumai auseinander setze, erzähle, erkläre), nach der Natur jegliches unterscheidend und sagend, wie es sich verhält. Die anderen Menschen aber wissen nicht, was sie wachend tun, wie sie vergessen, was sie im Schlafe tun.‹«

Heraklit sagt auch ferner: »Wir tun und denken alles nach der Teilnahme am göttlichen Verstande (logos). Deswegen müssen wir nur diesem allgemeinen Verstande folgen. Viele aber leben, als ob sie einen eigenen Verstand hätten (idian phronêsin); der Verstand aber (hê de) ist nichts anderes als die Auslegung (Bewußtwerden, Darstellung, Einsicht) der Weise der Anordnung (Einrichtung) des Alls (exêgêsis tou tropou Wendung, Wandlung, tês tou pantos dioikêseôs). Deswegen, soweit wir teilnehmen am Wissen von ihm (autou tês mnêmês koinônêsômen), sind wir in der Wahrheit; soviel wir aber Besonderes (Eigentümliches) haben (idiasômen), sind wir in der Täuschung.« Sehr große und wichtige Worte! Man kann sich nicht wahrer und[341] unbefangener über die Wahrheit ausdrücken. Nur das Bewußtsein als Bewußtsein des Allgemeinen ist Bewußtsein der Wahrheit; Bewußtsein aber der Einzelheit und Handeln als einzelnes, eine Originalität, die eine Eigentümlichkeit des Inhalts oder der Form wird, ist das Unwahre und Schlechte. Der Irrtum besteht also allein in der Vereinzelung des Denkens, – das Böse und der Irrtum darin, sich vom Allgemeinen auszuscheiden. Die Menschen meinen gewöhnlich, wenn sie etwas denken sollen, so müsse es etwas Besonderes sein; dies ist Täuschung.

Sosehr Heraklit behauptet, daß in dem sinnlichen Wissen keine Wahrheit ist, weil alles Seiende fließt, das Sein der sinnlichen Gewißheit nicht ist, indem es ist, ebensosehr setzt er als notwendig im Wissen die gegenständliche Weise. Das Vernünftige, das Wahre, das ich weiß, ist wohl ein Zurückgehen aus dem Gegenständlichen, als aus Sinnlichem, Einzelnem, Bestimmtem, Seiendem. Aber was die Vernunft in sich weiß, ist ebenso die Notwendigkeit oder das Allgemeine des Seins; es ist das Wesen des Denkens, wie es das Wesen der Welt ist. Es ist dieselbe Betrachtung der Wahrheit, welche Spinoza »eine Betrachtung der Dinge unter der Form der Ewigkeit« nennt. Das Fürsichsein der Vernunft ist nicht ein objektloses Bewußtsein, ein Träumen, sondern ein Wissen, das für sich ist, – aber so, daß dies Fürsichsein wach ist oder daß es gegenständlich und allgemein, für alle dasselbe ist. Das Träumen ist ein Wissen von etwas, wovon nur ich weiß. Das Einbilden und dergleichen ist ebensolches Träumen. Ebenso das Gefühl ist die Weise, daß etwas bloß für mich ist, ich etwas in mir, als in diesem Subjekte, habe; die Gefühle mögen sich für noch so erhaben ausgeben, so ist wesentlich, daß für mich, als dieses Subjekt, es ist, was ich fühle, – nicht als Gegenstand, als ein Freies von mir. In der Wahrheit aber ist der Gegenstand für mich als das an sich seiende Freie, und ich bin für mich von mir subjektivitätslos;[342] und ebenso ist dieser Gegenstand kein eingebildeter, von mir nur zum Gegenstand gemachter, sondern an sich allgemeiner.

Außerdem hat man noch viele andere Fragmente von Heraklit, einzelne Aussprüche usw., z.B.: »Die Menschen sind sterbliche Götter und die Götter unsterbliche Menschen; lebend jener Tod und sterbend jener Leben.« Der Tod der Götter ist das Leben, das Sterben das Leben der Götter. Das Göttliche ist das Erheben durch das Denken über die bloße Natürlichkeit; diese gehört dem Tode an.

Wir können in der Tat von Heraklit Ähnliches sagen, wie Sokrates sagte: Was uns noch vom Heraklit übriggeblieben, ist vortrefflich; von dem aber, was uns verlorengegangen ist, müssen wir vermuten, daß es wohl gleich vortrefflich gewesen sei. Oder wenn wir das Schicksal für gerecht halten wollen, daß es der Nachwelt immer das Beste erhielt, so müssen wir wenigstens von dem, was uns von Heraklit noch gemeldet ist, sagen, daß es dieser Aufbewahrung wert ist.

30

Merkwürdig läßt Tennemann (I, 233) den Heraklit sagen: »Der Grund des Denkens, die Denkkraft ist außer dem Menschen.« Dazu zitiert er Sextus Empiricus, Adversus mathematicos VII, § 349

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 18, Frankfurt am Main 1979, S. 337-343.
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