C. Sokratiker

[516] Die Sokratiker sind das Dritte in der zweiten Periode, die dritte Periode sind Platon und Aristoteles.

Sokrates ist als ein Wendungspunkt des philosophischen Geistes (Denkens) bezeichnet worden. Das Erkennen und das Allgemeine hat er aufgestellt. Mit ihm und von ihm an sehen wir das Wissen eintreten, die Welt sich in das Reich des bewußten Gedankens erheben, dieses der Gegenstand[516] werden. Wir sehen nicht mehr fragen und beantworten (fordern), was das Wesen, die Natur ist, sondern was die Wahrheit ist; oder das Wesen hat sich bestimmt, nicht das Ansich zu sein, sondern wie es im Erkennen ist. Wir sehen daher die Frage vom Verhältnis des seiner selbst bewußten Denkens zum Wesen eintreten und das Wichtigste werden. Das Wahre und das Wesen ist nicht dasselbe; das Wahre ist das erkannte (gedachte) Wesen, das Wesen aber ist das einfache Ansich. Dies Einfache ist zwar selbst Gedanke und ist im Gedanken; aber wenn gesagt wird, das Wesen ist das reine Sein oder das Wesen ist der nous – α) Sein, β) Werden, γ) Fürsichsein (Atome), δ) Maß (Notwendigkeit), dann Begriff als Denken überhaupt –, so ist dies unmittelbar gesagt, es hat eine gegenständliche Weise. Oder es ist die einfache Einheit des Gegenständlichen und des Denkens; es ist nicht rein gegenständlich, denn das Sein kann man nicht sehen, hören usf., noch ist es reines Denken, entgegengesetzt dem Seienden, denn dies ist das Selbstbewußtsein, das Fürsichsein, das sich vom Sein und Wesen unterscheidet. Es ist nicht die aus seinem Unterschiede in sich zurückgehende Einheit, was das Erkennen und Wissen ist. In diesen stellt sich das Selbstbewußtsein auf eine Seite als Wesenheit, Fürsichsein, und auf die andere das Sein, und ist sich dieses Unterschiedes bewußt und kehrt aus dieser Unterscheidung in die Einheit beider zurück. Diese Einheit, das Resultat ist das Gewußte, das Wahre. Ein Moment des Wahren ist die Gewißheit seiner selbst; dies Moment ist hinzugekommen zu dem Wesen – im Bewußtsein und für das Bewußtsein.

Durch diese Bewegung und die Untersuchung hierüber ist es, daß sich die zunächst folgende Periode der Philosophie auszeichnet, – nicht das frei entlassene, rein gegenständliche Wesen, sondern es in der Einheit mit der Gewißheit seiner selbst. Es ist dabei dies nicht so zu verstehen, als ob dies Erkennen selbst zum Wesen gemacht worden, so daß es als Inhalt und Definition des absoluten Wesens gegolten hätte, oder als ob das Wesen bestimmt worden wäre für dies philosophische[517] Bewußtsein vorhanden als Einheit des Seins und des Denkens, als ob sie es so gedacht hätten; sondern sie haben von dem Wesen und Wesentlichen nur nicht mehr ohne dies Moment (der Gewißheit seiner selbst) sprechen können. Und diese Periode ist gleichsam die Mittelperiode, welche selbst die Bewegung des Erkennens ist und das Erkennen als Wissenschaft von dem Wesen betrachtet, die eben erst jene Einheit zustande bringt.

In dieser Bestimmung sehen wir nun das Erkennen überhaupt bald in subjektiver Bedeutung und Bedeutung der Einzelheit nehmen, als die Gewißheit seiner selbst oder als Gefühl, und die Bemühung des Bewußtseins darauf als das Wesentliche einschränken, das Wesen für das Bewußtsein überhaupt darein setzen, – bald im Gegenteil das reine Denken in seiner Bewegung mit dem Einzelnen erkennen und die vielfachen Verwandlungen des Allgemeinen zum Bewußtsein kommen, – bald die unbewegte, sich nur auf sich selbst beziehende Einfachheit des Denkens überhaupt zum Wesen des Bewußtseins als Einzelnen wie seines Erkennens machen, – bald dieses Denken als den Begriff, welcher sich gegen Alles überhaupt (alle Bestimmtheit und des Begriffs) negativ verhält, und ebensosehr gegen das Wissen und Erkennen selbst.

Aus dieser Bestimmung ergibt sich nun, welche philosophischen Systeme uns hier vorkommen können. In dieser Periode ist also die Beziehung des Denkens auf das Sein gesetzt oder des Allgemeinen auf das Einzelne. Diese Beziehung ist: widersprechend – wir sehen diesen Widerspruch, den Widerspruch des Bewußtseins, zum Bewußtsein kommen, einen Widerspruch, worüber das gemeine Vorstellen kein Bewußtsein hat, sondern eine Vermischung hiervon ist, sich gedankenlos darin herumzutreiben; Gegenstand der Philosophie – und das Allgemeine überhaupt das Wesen; endlich auch als erkennende Wissenschaft selbst, welche aber über ihren Begriff nicht hinauskommt und, indem sie ausgebreitetere entfaltete Wissenschaft von einem Inhalte ist, sich diesen Inhalt[518] nicht geben, sondern nur ihn denken, auf einfache Weise bestimmen kann.

Die Wirkung des Sokrates war weitreichend, bildend im Reich des Gedankens (große Anregung, Aufregung ist Hauptverdienst, Hauptwirkungsweise eines Lehrers); er hat subjektiv formelle Wirkung gehabt, Zwiespalt im Individuum, Subjekt hervorgebracht, aber formell. Die übrige Wirkung, Produkt war jedes seinem Belieben, Willkür überlassen, – nicht objektive Gedanken, weil das Prinzip das subjektive Bewußtsein.

Sokrates selbst war nicht darüber hinausgekommen, daß er für das Bewußtsein überhaupt das einfache Wesen des Sichselbstdenkens, das Gute, aussprach und die bestimmten Begriffe vom Guten untersuchte, ob sie das, dessen Wesen sie ausdrücken sollten, gehörig ausdrückten, die Sache durch sie in der Tat bestimmt sei. Das Gute wurde als Zweck für den handelnden Menschen gemacht. Dabei ließ er die ganze Welt der Vorstellung, überhaupt das gegenständliche Wesen, für sich liegen, ohne einen Übergang von dem Guten, dem Wesen des Bewußten als eines solchen, zu dem Ding zu suchen und das Wesen als Wesen der Dinge zu erkennen. Denn wenn alle jetzige spekulative Philosophie das Allgemeine als das Wesen ausspricht, so hat dies, wie es zuerst auftritt, den Schein, eine einzelne Bestimmung zu sein, neben der es noch eine Menge anderer gibt. Erst die vollständige Bewegung des Erkennens hebt diesen Schein, und das System des Universums stellt sein Wesen als Begriff, als gegliedertes Ganzes dar.

Die verschiedenartigsten Schulen und Grundsätze gingen von dieser Bildung aus. Von dieser Art, wie Sokrates es hielt, werden eine Menge seiner Freunde erwähnt, welche ihm hierin getreu geblieben, nicht weitergingen und (viele sind Schriftsteller geworden) sich damit begnügten, Unterredungen seiner Art, entweder die er mit ihnen gehalten oder sie sonst gehört, geschichtlich richtig aufzuzeichnen oder selbst von dieser Are zu erfinden, im übrigen aber sich spekulativer[519] Untersuchungen zu enthalten und (sie hatten Richtung aufs Praktische) sich der Erfüllung der Pflichten ihres Standes und Lage fest und getreu und damit beruhigt und befriedigt zu erhalten. Xenophon ist der berühmteste, ausgezeichnetste unter diesen. Und wenn davon die Frage ist, ob er oder Platon getreuer uns den Sokrates nach seiner Persönlichkeit und seiner Lehre geschildert, so ist gar keine Rede davon, daß wir uns in Ansehung des Persönlichen und der Methode, des Äußeren der Unterredung überhaupt zwar ebensowohl von Platon ein getreues, vielleicht gebildeteres Bild von Sokrates erhalten können, aber daß wir uns in Ansehung des Inhalts seines Wissens und des Grades, wie sein Denken gebildet war, vorzüglich an Xenophon zu halten haben.

Unter Sokratikern verstehe ich die dem Sokrates näher gebliebenen Schüler und philosophischen Weisen. Was wir in ihnen finden, ist nichts anderes als die abstrakte Auffassung der Sokratischen Weise, die so einseitig erscheint und verschiedenartig wird. Man hat Sokrates den Vorwurf gemacht, daß aus seiner Lehre so verschiedenartige Philosophien hervorgegangen sind; dies liegt in der Unbestimmtheit, in der Abstraktion seines Prinzips selbst. Und eben sind es nur bestimmte Formen dieses Prinzips selbst, die zunächst in den philosophischen Ansichten, Weisen zu erkennen sind, die wir als Sokratisch bezeichnen.

Außer Xenophon haben aber ebensosehr eine Menge anderer Sokratiker Dialoge geschrieben, die teils sich auf wirkliche Unterredungen mit Sokrates gründeten, teils von ihnen in seiner Manier ausgearbeitet waren. Es werden Aischines, Phaidon, Antisthenes und eine Menge anderer erwähnt (von denen einige des Aischines auf uns gekommen sind), unter anderen die eines Schuhmachers Simon, »bei dem Sokrates oft in seiner Werkstätte einsprach und der das nachher sorgfältig aufschrieb, was Sokrates mit ihm gesprochen«. (Was das Literarische betrifft, so übergehe ich dies.) Seine Titel seiner sowie der anderen, die Dialoge hinterlassen haben,[520] finden sich bei Diogenes Laertios angeführt; sie haben aber kein Interesse für uns.

Von den Sokratikern hat sich ein Teil an die unmittelbare Lehre und Manier des Sokrates gehalten; ein anderer Teil aber ist darüber hinausgegangen, hat von Sokrates ausgehend eine der besonderen Seiten der Philosophie und des Standpunkts, auf den das philosophische Bewußtsein durch ihn gebracht wurde, ausgebildet und festgehalten. Dieser Standpunkt enthält nämlich die Absolutheit des Selbstbewußtseins in sich und die Beziehung seiner an und für sich seienden Allgemeinheit auf das Einzelne.

Von denjenigen, die einen eigentümlichen Wert haben, sind zuerst die Megariker zu nennen, an deren Spitze Euklid aus Megara steht. Nach dem Tode des Sokrates war die Folge, daß das Häufchen seiner Freunde sich aus Athen nach Megara flüchtete; wohin auch Platon ging. Euklides war dort ansässig und nahm sie nach Kräften (gut) auf. Als Sokrates' Urteil aufgehoben war und die Ankläger bestraft waren, sind die Sokratiker zum Teil zurückgekehrt, und alles wurde gleich ins Gleichgewicht gebracht. Wir haben drei dieser sokratischen Schulen zu betrachten. Außer der ersten noch die kyrenaische und die kynische, – alle drei sehr voneinander abweichende Schulen, woraus schon deutlich erhellt, daß Sokrates selber ohne positives System gewesen war. Es tut sich bei diesen Sokratikern die Bestimmung des Subjekts hervor, aber in einer Bestimmung des Allgemeinen. Das Wahre und Gute ist das Prinzip, das Absolute, und dieses erscheint zugleich als Zweck für das Subjekt, und dieser Zweck erfordert Nachdenken, Bildung des Geistes, Bildung des Denkens überhaupt, und daß man zu sagen wisse, was das Gute und Wahre überhaupt sei. Bei diesen sokratischen Schulen bleibt es im ganzen dabei stehen, daß das Subjekt sich selbst der Zweck ist und durch die Bildung seines Wissens seinen subjektiven Zweck erreicht. Die Form des Bestimmens[521] ist aber die Wissenschaft, das Allgemeine, – doch so, daß es nicht so abstrakt bleibt, sondern die Entwicklung der Bestimmungen des Allgemeinen die Wissenschaft gibt.

Die Megariker sind die abstraktesten; sie hielten sich an die Bestimmung des Guten. Das Prinzip der megarischen Schule war das einfache Gute, das Gute in einfacher Gestalt, das Prinzip der Einfachheit; mit der Behauptung der Einfachheit des Guten verband sie die Dialektik, und ihre Dialektik ist, daß alles Bestimmte, Beschränkte nichts Wahrhaftes sei. Bei den Megarikern war die Bestimmung, das Allgemeine zu wissen, und dieses Allgemeine galt ihnen als das Absolute in der Form des Allgemeinen, so daß es in dieser Form festgehalten werden sollte.

Die Kyrenaiker haben das Gute näher zu bestimmen gesucht und nannten es die Lust, das Vergnügen. Das Prinzip der kyrenaischen Schule scheint sehr von dem des Sokrates entfernt zu sein, erscheint sogar als Gegenteil. Wir stellen uns dies Prinzip des vergänglichen Daseins, der Empfindung, als direkt entgegengesetzt vor dem Guten; aber dies ist nicht der Fall. Die Frage ist, was das Gute sei, und da machte die kyrenaische Schule das Angenehme, das ein Bestimmtes zu sein scheint, zum Inhalte, – jedoch so, daß erfordert werde ein gebildeter Geist. Es ist hier gemeint das Vergnügen, wie es durch den Gedanken bestimmt wird. Den Kyrenaikern galt ebenfalls das Allgemeine, aber so, daß dieses eine Bestimmung erhalte, was es sei; diese Bestimmung setzten sie nun in die angenehme Empfindung.

Die Kyniker bestimmen das Gute auch näher, aber gegen die Kyrenaiker: es liege in den einfachen Bedürfnissen der Natur. Sie machen ebenso alles Besondere, Beschränkte, um das die Menschen sich bekümmern, zu etwas, was nicht zu begehren ist. Ihr Prinzip ist das Gute. Aber mit welchem Inhalt, welcher Bestimmung? Ihre Bestimmung ist, daß der Mensch sich an das zu halten habe, was der Natur gemäß sei, an das einfach Natürliche. Auch bei den Kynikern ist die Bildung des Geistes durch das Wissen des Allgemeinen das Prinzip;[522] aber durch dieses Wissen des Allgemeinen soll die Bestimmung des Individuums erreicht werden, daß es sich in der abstrakten Allgemeinheit halte, in Freiheit und Unabhängigkeit und gegen alles sonst Geltende gleichgültig.

Diese drei Schulen sind nicht weitläufig zu behandeln. Das Prinzip der Kyrenaiker ist später wissenschaftlicher zum Epikureismus ausgebildet worden, wie das der Kyniker von den Stoikern.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 18, Frankfurt am Main 1979, S. 516-523.
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