c. Stilpon

[534] Einer der berühmtesten Eristiker ist Stilpon, ein geborener Megariker. Diogenes erzählt, daß er ein sehr gewaltiger Streiter gewesen. »Er übertraf alle so sehr an Scharfsinn der Rede, daß ganz Griechenland um seinetwillen aphorsan eis auton in Gefahr gewesen (wenig fehlte), zu megarisieren megarisai.« Er lebte zur Zeit Alexanders des Großen und nach seinem Tode (Ol. 114, 1; 324 V. Chr.) in Megara, wo die Generale Alexanders Krieg miteinander führten. »Ptolemaios Soter, Demetrios Poliorketes, des Antigonos Sohn, erwiesen ihm, wie sie Megara eroberten, viele Ehre. In Athen soll alles aus den Werkstätten herausgelaufen sein, um ihn zu sehen; und als ihm jemand sagte, man bewundere ihn wie ein fremdes Tier, antwortete er: Nein, sondern wie einen wahren Menschen.« Bei Stilpon hebt sich dies[534] vornehmlich heraus, daß er das Allgemeine im Sinne der formellen, abstrakten Verstandesidentität nahm. Die Hauptsache in seinen Beispielen ist aber immer die, die Form der Allgemeinheit gegen das Besondere geltend gemacht zu haben.

α) Diogenes führt zuerst in Beziehung auf den Gegensatz des Diesen und des Allgemeinen von ihm an: »Wer sage, es sei (ein) Mensch (wer Mensch sage), sage niemand; denn er sage nicht diesen oder jenen. Denn warum eher diesen als jenen? Also auch nicht diesen.« Daß Mensch das Allgemeine ist und nicht Dieser bestimmt gemeint ist, gibt jeder leicht zu; aber Dieser bleibt uns noch in unserer Vorstellung daneben stehen. Allein Stilpon sagt, daß der Diese gar nicht sei und gesagt werden könne, daß nur das Allgemeine ist. Diogenes Laertios sagt: »Er hob die Gattungen auf.« Vielmehr läßt sich aus dem, was von ihm angeführt wird, das Gegenteil schließen: daß er das Allgemeine behauptet und das Einzelne aufgehoben; – Tennemann (Bd. II, S. 158) meint freilich auch: die Gattungen.

Eben dies, daß die Form der Allgemeinheit festgehalten wird, drückt sich weiter in einer Menge von Anekdoten aus, die von Stilpon aus dem gemeinen Leben erzählt werden. So sagt er: »Der Kohl, der hier aufgezeigt (verkauft) wird, ist nicht. Denn der Kohl ist schon vor vielen tausend Jahren gewesen; also ist der Kohl nicht dieser aufgezeigte«, d.h. nur das Allgemeine ist, dieser Kohl ist nicht. Wenn ich sage, dieser Kohl, so sage ich ganz etwas anderes, als ich meine; denn ich sage: alle anderen Kohle.

Noch wird angeführt eine Anekdote in diesem Sinne. »Er war in Unterredung mit Krates, einem Kyniker, begriffen und brach sie ab, um Fische zu kaufen. Krates sagte darüber: Wie, du verläßt die Rede?« (In dem Sinne, wie auch im gemeinen Leben einer ausgelacht wird oder für ungeschickt gilt, der nichts zu antworten zu wissen scheint, und die Rede[535] so Großes gilt, daß es besser scheint, wenn nur überhaupt etwas geantwortet wird, besser als gar nichts, und man keine Antwort schuldig bleibt.) »Stilpon antwortete: Keineswegs, sondern die Rede habe ich, dich aber verlasse ich; denn die Rede bleibt, aber die Fische werden verkauft.« Was in diesen einfachen Beispielen erwähnt wird, erscheint trivial, weil es solch eine triviale Materie ist; in anderen Formen erscheint es wichtiger, um weitere Bemerkungen darüber zu machen.

Überhaupt daß das Allgemeine im Philosophieren geltend gemacht wird, so daß sogar nur das Allgemeine gesagt werden könne, und das Diese, gemeinte, gar nicht, – dies ist ein Bewußtsein und Gedanke, zu dem die philosophische Bildung unserer Zeiten noch gar nicht gekommen ist. Der gemeine Menschenverstand oder auch der Skeptizismus neuerer Zeit oder Philosophie überhaupt, die behauptet, daß die sinnliche Gewißheit Wahrheit habe oder daß dies wahr sei, daß es außer uns sinnliche Dinge gebe, und was er sehe, höre als solcher usf., jeder für wahr halte, – mit diesen braucht sich eigentlich gar nicht eingelassen zu wer den in Ansehung einer Widerlegung aus Gründen; sie behaupten unmittelbar, das Unmittelbare sei das Wahre. Sie brauchen nur nach dem aufgefaßt zu werden, was sie sagen; sie sagen nämlich immer etwas anderes, als sie meinen. Es ist das Frappanteste, daß sie das gar nicht sagen können, was sie meinen. Sie sagen: das Sinnliche, dies ist ein Allgemeines, alles Sinnliche, ein Negatives des Diesen, – oder Dieser ist alle Diese. Das Denken enthält nur Allgemeines, das Diese ist nur ein Gemeintes; sage ich: Dieses, so ist es das Allgemeinste; z.B.: Hier ist das, was ich zeige, – Jetzt, indem ich rede; aber Hier und Jetzt ist alle Hier und Jetzt. Wenn ich sage: Ich, so meine ich mich, diese einzelne Person von allen anderen unterschieden. Ich bin aber eben so ein Gemeintes; ich kann mich, der ich meine, gar nicht sagen. Ich ist absoluter[536] Ausdruck. Ich und kein anderer als Ich, – so sagen alle von sich; Ich ist jeder. Wer ist da? – Ich. – Das sind alle. Allgemeines ist; aber auch das Einzelne – ist nur Allgemeines, so sehr, daß im Wort, Sprache, einer Existenz aus dem Geiste geboren, das Einzelne, wie es gemeint wird, gar nicht Platz finden kann. Die Sprache drückt wesentlich nur Allgemeines überhaupt aus; was man aber meint, ist das Besondere, Einzelne. Man kann daher das, was man meint, in der Sprache nicht sagen. Wenn ich mich durch das Alter, Geburtsort, das, was ich getan, wo ich zu dieser Zeit gewesen bin oder bin, unterscheiden und als diesen Einzelnen bestimmen will, so geht es damit ebenso. Ich bin jetzt so viele Jahre alt; aber eben dies Jetzt, das ich sage, ist alle Jetzt. Bestimme ich von einer Zeitperiode an (Christi Geburt usf.), so ist diese Epoche allein fixiert wieder durch das Jetzt, das sich immer verrückt – eins durchs andere: von Jetzt an vor 1805 Jahren, und Jetzt ist 1805 nach Christi Geburt. Sie bestimmen nur einander; aber das Ganze ist unbestimmt, hat ein anfang- und endloses Vor und Nach. Ebenso Hier; Dieser hier ist ein jeder, jeder ist in einem Hier. Es ist dies die Natur der Allgemeinheit, die sich in der Sprache geltend macht. Wir helfen uns dann durch den Namen überhaupt, womit wir vollkommen etwas Einzelnes bestimmen, – Dieses, das so heißt. Allein wir geben zu, nicht die Sache selbst ausgesprochen zu haben. Der Name als Name ist kein Ausdruck, der das enthält, was ich bin; er ist ein Zeichen – und ein zufälliges Zeichen – des tätigen Gedächtnisses. β) Indem Stilpon das Allgemeine als das Selbständige aus sprach, löste er alles auf. »Das ist verschieden, dessen Bestimmung verschieden ist«; das Fixieren der Bestimmung ist Fixieren zur Selbständigkeit. So die Eigenschaften der Dinge; sind sie Bestimmtheit (logos) für sich, so ist das Ding Aufgelöstes, Aggregat von vielen selbständigen Bestimmungen.

Dies hat Stilpon behauptet. Dessen Bestimmungen (logoi, in Form der Allgemeinheit) verschieden sind, ist ein Anderes.[537] Weil die »Bestimmungen« (welche das Reale sind) »getrennt sind«, so gibt es nichts Individuelles. »Sagt man: Sokrates ist musisch, Mensch, so sind diese eidê voneinander verschieden«; ist Sokrates also Einer, so hat dies keine Wahrheit, – nur das Allgemeine ist das Wahre.

γ) Es ist sehr merkwürdig, daß diese Form der Identität im Stilpon zum Bewußtsein kam: Man dürfe keinem Gegenstande ein verschiedenes Prädikat beilegen, – identischer Satz. »Wenn wir von einem Pferde das Laufen aussagen, sagt er nicht, daß das Prädikat mit dem Gegenstande, dem es beigelegt wird, identisch ist. Sondern eine andere sei die Begriffsbestimmung ›Mensch‹, eine andere die ›gut‹; ebenso unterscheiden sich ›Pferd‹ und ›Laufen‹. Denn wenn wir nach dem Begriffe eines jeden gefragt werden, so geben wir für beide nicht denselben an. Daher irren die, welche Verschiedenes von Verschiedenem aussagen. Denn wäre ›Mensch‹ und ›gut‹ dasselbe und ebenso ›Pferd‹ und ›laufen‹, wie könnte man auch von dem Brot und der Arznei das ›gut‹ und vom Löwen und Hunde das ›Laufen‹ aussagen?« »Man müsse also nicht sagen, der Mensch ist gut, noch der Mensch ist ein Feldherr, sondern der Mensch ist nur der Mensch, gut nur gut, der Feldherr nur der Feldherr; nicht, zehntausend Ritter, sondern Ritter sind nur Ritter, zehntausend sind nur zehntausend.«

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 18, Frankfurt am Main 1979, S. 534-538.
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