Zweiter Abschnitt.

Scholastische Philosophie

[524] Das ist ein Zeitraum von 600 oder mit den Kirchenvätern von 1000 Jahren. Bei den christlichen Kirchenvätern und später bei den Scholastikern hatte das Philosophierenden selben Charakter der Unselbständigkeit. Aber innerhalb des Christentums ist die Grundlage der Philosophie, daß im Menschen das Bewußtsein der Wahrheit, des Geistes an und für sich aufgegangen ist, und dann, daß der Mensch das Bedürfnis hat, dieser Wahrheit teilhaftig zu werden. Dies ist absolute Forderung und Notwendigkeit. Es muß also möglich sein, daß der Mensch fähig sei, der Wahrheit teilhaftig[524] zu werden; er muß ferner von dieser Möglichkeit überzeugt sein. Um aber das Wahre zu wissen, und damit alle es wissen können, so muß es an ihn kommen als ein Gegenstand, nicht für das denkende, philosophisch ausgebildete Bewußtsein, sondern für das sinnliche, noch in ungebildeter Vorstellungsweise stehende Bewußtsein. Der Inhalt der Idee also muß dem Menschen offenbar werden, das ist das erste; zweitens muß der Mensch fähig sein [aufzufassen], daß für ihn diese Wahrheit ist. Wenn der Mensch aber für das Göttliche empfänglich ist, so muß für ihn die Identität der göttlichen und der menschlichen Naturdasein; und das ist den Menschen auf eine unmittelbare Weise in Christo bewußt geworden. Denn in ihm ist die göttliche und menschliche Natur an sich eins.

Ferner ist das Ursprüngliche, an sich Seiende nur im innersten Begriffe. Im Begriffe des Geistes ist diese Bestimmung, daß der Mensch nur ein Lebendiges ist, das zwar die Möglichkeit hat, wirklich Geist zu werden; aber der Geist ist nicht von Natur. Der Mensch ist also nicht von Natur dieses, in dem Gottes Geist lebt und wohnt; der Mensch ist nicht von Natur so, wie er sein soll. Das Tier ist von Natur, wie es sein soll; das ist aber eben sein Unglück, daß es nicht weiterkommt. Der Mensch ist also von Natur böse, er soll nicht natürlich sein; und alles, was der Mensch Böses tut, kommt aus einem natürlichen Triebe. Das Geistige ist erst durch die Negation des Unmittelbaren; denn auch Gott selbst ist nur so ein Geist, daß er das Eine, Verschlossene zum Anderen seiner selbst machte. So wird auch der Mensch erst durch Erheben über das Natürliche geistig und gelangt zur Wahrheit. Diese Wahrheit erreicht er, indem für ihn die Gewißheit als Anschauung wird, daß in Christo die Identität der göttlichen und menschlichen Natur vorhanden, in ihm der logos Fleisch geworden ist. Da haben wir also erstens den Menschen, der durch diesen Prozeß zur Geistigkeit kommt, und zweitens den Menschen als Christus, in welchem diese Identität beider Naturen gewußt wird. Das[525] ist aber der Glaube an Christus; vermittels dieses Wissens von dieser Identität in Christo, vermittels des Wissens dieser ursprünglichen Einheit kommt der Mensch dann zur Wahrheit. Da nun der Mensch überhaupt dieser Prozeß ist, die Negation des Unmittelbaren zu sein und aus dieser Negation zu sich selbst, zu seiner Einheit zu kommen, so soll er also seinem natürlichen Wollen, Wissen und Sein entsagen. Dieses Aufgeben seiner Natürlichkeit wird angeschaut in Christi Leiden und Tod und in seiner Auferstehung und Erhebung zur Rechten des Vaters. Christus ist ein vollkommener Mensch gewesen, hat das Los aller Menschen, den Tod, ausgestanden; der Mensch hat gelitten, sich geopfert, sein Natürliches negiert und sich dadurch erhoben. In ihm wird dieser Prozeß, diese Konversion seines Andersseins zum Geiste, selber angeschaut, und die Notwendigkeit des Schmerzes in der Entsagung gegen die Natürlichkeit; aber dieser Schmerz, daß Gott selbst tot ist, ist die Geburtsstätte der Heiligung und des Erhebens zu Gott. So wird also, was im Subjekte vorgehen muß, so wird dieser Prozeß, diese Konversion des Endlichen als an sich vollbracht in Christo gewußt.

Daß die Offenbarung Christi diese Bedeutung habe, ist der Glaube der Christen, während die profane, unmittelbare und nächste Bedeutung dieser Geschichte ist, daß Christus ein bloßer Prophet gewesen und das Schicksal aller alten Propheten gehabt habe, verkannt zu sein. Daß sie aber die von uns angegebene Bedeutung habe, das weiß der Geist; denn der Geist ist eben in dieser Geschichte expliziert. Diese Geschichte ist der Begriff, die Idee des Geistes selbst; und die Weltgeschichte hat in ihr ihre Vollendung gefunden, auf diese unmittelbare Weise das Wahre zu wissen. Der Geist also ist es, der sie so auffaßt; und auf unmittelbar anschauliche Weise ist das im Pfingstfeste gegeben. Denn vor diesem Tage hatten die Apostel diese unendliche Bedeutung von Christo noch nicht; sie wußten noch nicht, daß dieses die unendliche Geschichte von Gott ist: geglaubt hatten sie an[526] ihn, aber noch nicht an ihn als diese unendliche Wahrheit. Seine Freunde haben ihn gesehen, seine Lehren gehört, das alles haben sie gewußt, haben auch Wunder gesehen und sind dadurch dazu gebracht, an ihn zu glauben. Aber Christus selbst schilt die heftig, welche Wunder von ihm verlangen. »Der Geist«, sagt er, »wird euch in alle Wahrheit leiten.«

Aus dieser Idee, wie sie durch den Geist gefaßt ist, entstanden viele sogenannte Ketzereien. Dahin gehören die Gnostiker in vielerlei Sekten; ihre Richtung war das Erkennen, woher sie den Namen bekommen haben. Sie sind nämlich nicht bei dieser geschichtlichen Form der Idee des Geistes stehengeblieben, sondern sie haben die Geschichte interpretiert und sie als Geschichtliches aufgelöst. Die von ihnen hineingebrachten Gedanken sind mehr oder weniger Gedanken der alexandrinischen oder auch der Philonischen Philosophie. Ihrer Grundlage nach haben sie sich also spekulativ gehalten, sind aber zu Ausschweifungen im Phantastischen und auch in der Moralität fortgegangen, wenngleich auch im trüben und phantastischen Wesen die Elemente immer zu erkennen sind, die wir geschichtlich gehabt haben. Sie sprechen von einem theos arrhêtos, den sie auch als abysson, bythos, propatôr bezeichnen; der Erstgeborene ist der nous, logos, sophia, die Auseinanderlegung (diathesis) dieses Abgrundes, das Sich-begreiflich-Machen des Unbegreiflichen. Dieses ist in der Form von Äonen und Engeln ausgedrückt. In der Explikation sind unterschiedene Prinzipien, das männliche und das weibliche, aus deren synthesis und syzygia die Erfüllung (plêrôma) hervorgeht. Dieses plêrôma ist die Äonenwelt überhaupt; den Abgrund aber, in dem das Unterschiedene noch verschlossen, noch nicht herausgetreten war, heißen sie Hermaphrodit, wie ein Ähnliches schon längst von den Pythagoreern geschehen war.

Aus dem Orient sind andere Formen dieses Gegensatzes hineingebracht, Licht und Finsternis, Gutes und Böses. Besonders ist aber dieser parsische Gegensatz im Manichäismus[527] hervorgetreten, worin Gott, als das Licht, dem Bösen, Nichtseienden (ouk on), der hylê, dem Materiellen, entgegentritt. Das Böse ist das, was den Widerspruch in sich selbst hatte. »Die sich selbst überlassenen und in blinder Feindschaft gegeneinander tobenden Mächte des Bösen (hylê)«, dieses sich selbst Vernichtende, ist »von einem Schimmer aus dem Lichtteiche getroffen und angezogen«; und dieses hat die Materie so weit besänftigt, daß »sie aufhörten, einander zu bestreiten, und sich sogar vereinigten, um in das Lichtreich einzudringen. – Zur Lockspeise für die hylê, um ihre blinde Wut durch eine unwiderstehlich wirkende Kraft zu lähmen und zu besänftigen, ihre endliche Vernichtung und die allgemeine Herrschaft des Lichts, des Lebens, der Seele herbeizuführen, gab der Vater des Lichtes eine der Mächte desselben (des Guten) preis. Und das ist die Weltseele (psychê hapantôn); diese wurde von der hylê verschlungen, und diese Vermischung ist die Grundlage der ganzen Schöpfung. Daher ist die Seele überall hin verbreitet und in der toten Hülle überall wirkend und kämpfend in dem Menschen, dem mikrokosmos, wie in dem Weltall, dem makrokosmos«, – aber mit ungleicher Gewalt; denn »wo Schönheit sich offenbart, siegt das Lichtprinzip« (die Seele) »über die hylê: in dem Häßlichen unterliegt es«, herrscht die Materie vor. – »Diese gefangene Seele nannte Mani auch den Sohn des Menschen (hyios anthrôpou), nämlich des Urmenschen, des himmlischen Menschen, des Adam Kadmon.« Aber nur ein Teil von dem Lichtwesen (der Seele), der dazu bestimmt, das Reich des Bösen zu bekämpfen, ist auf diese Weise preisgegeben; »zu schwach, geriet er in Gefahr zu unterliegen und mußte einen Teil seiner Rüstung, diese Seele, der hylê hingeben«. Ein anderer ist frei geblieben: Der Teil der Seele, welcher durch solche Vermischung mit der hylê nicht gelitten hatte, sich frei zum Himmel erhoben, wirkt von oben zur Läuterung der gefangenen Seele, der verwandten Lichtteile; und das ist der 'Iêsous hyios anthrôpou apathês, Jesus der Menschensohn, der filius impatibilis, insofern er[528] nicht gelitten hat, »im Gegensatze gegen den filius hominis patibilis, die in dem ganzen Weltall gefangene Seele«. Aber jene erlösende Seele bleibt in dem sichtbaren Lichte (lux secunda ac visibilis, entgegengesetzt der prima ac inaccessibilis) und hat darin ihren Sitz und wirkt durch Sonne und Mond auf den Läuterungsprozeß der Natur ein. Durch sie aber erscheint ihm der ganze Lauf der physischen wie der geistigen Welt als ein Läuterungsprozeß: »Die gefangenen Lichtwesen mußten aus dem Kreislauf der Metempsychose zur unmittelbaren Wiedervereinigung mit dem Lichtreich erhoben werden. Deshalb stieg die reine himmlische Seele zur Erde herab und erschien in menschlicher Scheinform, um der leidenden Seele« (nous pathêtikos des Aristoteles?) »die Hand zu reichen. Jene bloß scheinbare Kreuzigung des 'Iêsous apathês«, das freilich nur scheinbare Mitleiden des nicht mit der Materie Vereinigten, »entspricht dem wirklichen Leiden der gefangenen Seele. So wie über Christus aber die Mächte der Finsternis keine Gewalt ausüben konnten, sollte auch ihre Gewalt über die verwandte Seele sich als nichtig zeigen. Die Manichäer sprechen von einem Jesus, der in aller Welt und in der Seele gekreuzigt ist; die Kreuzigung Christi bedeutet also mystisch nur die Wunden des Leidens unserer Seele. Die schwangerwerdende Erde erzeuge den jesus patibilis, der das Leben und Heil der Menschen ist, omni suspensus e ligno. Der in Jesus erschienene nous sei ta onta panta

Das Wesentliche der orthodoxen Kirchenväter, welche sich diesen gnostischen Spekulanten entgegenstellten, ist nun weiter dieses, daß sie die bestimmte Form der Gegenständlichkeit, der Wirklichkeit Christi festgehalten haben, aber in dieser Weise, daß diese Geschichte zugleich die Idee überhaupt zur Grundlage hat, also diese innige Vereinigung von Idee und geschichtlicher Gestalt. Es ist also die wahrhafte[529] Idee des Geistes in der bestimmten Form der Geschichtlichkeit zugleich. Die Idee war aber noch nicht als solche von der Geschichte unterschieden. Indem sich die Kirche also an diese Idee in der geschichtlichen Form hielt, bestimmte sie die Lehre. Wenn dagegen die Arianer auch noch nicht so weit gingen wie die Sozinianer, welche Christus für einen nur ausgezeichneten Menschen hielten, so hatten sie doch in ihm nicht, daß Gott in Christo gewußt wird. Aber sobald die Gottheit Christi wegbleibt, ist die Dreieinigkeit nicht mehr vorhanden und damit die Grundlage der ganzen spekulativen Philosophie weggenommen. Die Pelagianer aber leugneten die Erbsünde und behaupteten, daß die Natur des Menschen zur Tugend und Religiosität hinreichend wäre. Aber der Mensch soll nicht sein, wie er von Natur ist; er soll vielmehr geistig werden. So wurde auch diese Lehre als Häresis ausgeschlossen. So wurde mithin die Kirche vom Geiste regiert, an den Bestimmungen in der Idee festzuhalten, immer aber in der geschichtlichen Weise. Dies ist die Philosophie der Kirchenväter; sie haben die Kirche erzeugt wie denn der entwickelte Geist einer entwickelten Lehre bedarf und nichts so ungeschickt ist, als das Bestreben oder Verlangen einiger Neueren, die Kirche in ihre erste Form zurückzuführen. Später erstanden doctores, nicht mehr patres ecclesiae.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 19, Frankfurt am Main 1979, S. 524-530.
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