a. Anselmus

[553] Unter den Männern, welche kirchliche Lehren auch durch den Gedanken erweisen wollten, ist Anselm angesehen. Anselmus, geboren zu Aosta in Piemont gegen 1034, ein sehr geehrter Mann, wurde 1060 Mönch zu Bec und sogar 1093 zum Erzbischof von Canterbury erhoben; er ist 1109 gestorben. Er hat die Lehre der Kirche auf philosophische Weise zu betrachten und zu beweisen gesucht; es wird sogar von ihm gesagt, daß er den Grund zur scholastischen Philosophie gelegt habe.

Er sagt in Ansehung des Verhältnisses des Glaubens zum Denken folgendes: »Der Christ muß durch den Glauben zur Vernunft fortgehen«, vom Glauben anfangen, »nicht von der Vernunft aus zum Glauben kommen; noch weniger aber, wenn er nicht zu begreifen vermag, vom Glauben abgehen. Aber auch wenn er zum Erkennen durchzudringen vermag, so hat er seine Freude daran«, daß er das erkennt, was er sonst nur glaubte; »wo nicht, so verehrt er«, – so muß er bei der Lehre der Kirche bleiben. »Unser Glaube ist gegen die Gottlosen mit der Vernunft zu verteidigen, nicht gegen die Christen; denn von diesen wird vermutet, daß sie die durch die Taufe übernommene Verbindlichkeit halten werden. Jenen muß aufgezeigt werden, wie unvernünftig sie gegen uns streiten.« Sehr merkwürdig ist folgendes, was das Ganze seines Sinnes enthält. In seinem Traktatus Cur Deus homo, der reich an Spekulationen ist, sagt er (I, 2): »Es scheint mir eine Nachlässigkeit zu sein, wenn wir im Glauben fest sind und nicht suchen, das, was wir glauben, auch zu begreifen.« Jetzt erklärt man dies für Hochmut; unmittelbares Wissen, Glauben hält man für höher als Erkennen. Anselmus aber und die Scholastiker haben das Gegenteil sich zum Zweck gemacht.[554]

Anselm kann ganz besonders als der Grundleger der scholastischen Theologie von dieser Seite angesehen werden. Denn der Gedanke, durch ein einfaches Räsonnement zu beweisen, was geglaubt wurde – daß Gott ist –, ließ ihm Tag und Nacht keine Ruhe. Anfänglich hielt er es für des Teufels Versuchung, wenn er die göttlichen Wahrheiten beweisen wollte durch die Vernunft, und war angst und bange davor. Endlich aber sei es ihm gelungen durch die Gnade Gottes, in seinem Proslogion.

Er ist besonders berühmt durch den sogenannten ontologischen Beweis vom Dasein Gottes, den er aufgestellt hat, er hat sich lange damit gequält; sein Beweis ist bis auf die Kantischen Zeiten und (wer noch nicht bis zum Kantischen gekommen) noch bis auf die heutige Zeit unter der Reihe von Beweisen genannt worden. Er ist verschieden von dem, was wir bei den Alten finden und lesen: Gott, sagte man nämlich, der absolute Gedanke objektiv, Gott ist; denn weil die Dinge in der Welt zufällig sind, so ist das nicht das Wahre an und für sich, sondern dies ist das Unendliche. Später dagegen bei Anselm, mit dem der entgegengesetzte Gang anfängt, tritt der Gegensatz von Gedanke selbst und Sein auf, – dies unendliche Extrem. Diese reine Abstraktion, die erst im Christentume zum Bewußtsein kam, diese Entzweiung als solche hat das Mittelalter festgestellt und ist dabei stehengeblieben. Wie im Vorstellen, so tritt hier erst der Begriff und das Sein in seinem Gegensatze auf; und es wurde die Verbindung desselben gesucht. Aus der aristotelischen Philosophie kannten sie den metaphysischen Satz wohl, daß die Möglichkeit nichts für sich ist, sondern schlechthin eins mit der Wirklichkeit. Und es ist merkwürdig, daß jetzt erst und nicht früher das Allgemeine und das Sein in dieser Abstraktion entgegengesetzt und so das höchste Gesetz zum Bewußtsein gekommen ist; es ist die[555] höchste Tiefe, den höchsten Gegensatz zum Bewußtsein zu bringen. Dieser Beweis fließt aus dem Begriffe, – daß Gott das allgemeine Wesen der Wesen. Wenn nach einer Seite die Hauptfrage war, was ist Gott, und das Allgemeine als Prädikat desselben, des absolut Seienden, erschien, so geht eben damit eine Umkehrung vor, daß das Sein zum Prädikate wird und die absolute Idee zuerst gesetzt ist als das Subjekt, aber des Denkens. Wenn so einmal das Sein Gottes als das erste Vorausgesetzte aufgegeben und als ein Gedachtsein gesetzt ist, so ist das Selbstbewußtsein auf dem Wege, in sich zurückzukehren; dann fällt die Frage ein: Ist Gott?

Bekanntlich nahm der erste eigentlich metaphysische Beweis vom Dasein Gottes die Wendung, daß Gott als die Idee des Wesens, das alle Realität in sich vereinigt, auch die Realität des Seins in sich hat. Der Inhalt seines Räsonnements ist dieser; Anselm sagt: »Es ist etwas anderes, daß eine Sache im Verstande sei, etwas anderes, einzusehen, daß sie existiert. Auch ein Unwissender wird überzeugt sein, daß etwas ist im Gedanken, über das nichts Größeres gedacht werden kann«, – daß der Verstand in sich habe eine Vorstellung, die die höchste ist. »Dasjenige, über welches nichts Größeres gedacht werden kann, kann nicht allein im Verstande sein. Denn wenn es nur als Gedachtes genommen wird«, ist es nicht das Höchste; »es kann also auch genommen werden, daß es sei: das ist größer« als das nur Gedachte. »Wäre das, worüber nichts Größeres gedacht werden kann, bloß im Verstande, so wäre das, worüber nichts Größeres gedacht werden könne, etwas, worüber etwas Größeres gedacht werden kann. Das, über welches nichts Größeres gedacht werden kann, ist sowohl im Verstande als in der Sache«s; die höchste Vorstellung kann nicht allein im Verstande sein, es muß dazu gehören, daß sie existiere. Das ist ganz richtig; nur ist der Übergang nicht gezeigt, daß der subjektive Verstand[556] sich selbst aufhebt. So erhellt, daß Sein oberflächlicherweise unter das Allgemeine der Realität subsumiert ist, daß insofern das Sein nicht in den Gegensatz mit dem Begriffe tritt. Eben dies ist das Interesse – oder die Frage. Indem Realität oder Vollkommenes gesagt wird, so daß es noch nicht seiend gesetzt ist, so ist es ein Gedachtes und dem Sein vielmehr entgegengesetzt, als daß dies unter es subsumiert wäre.

Diese Argumentation hat bis auf Kant gegolten; wir sehen das Bestreben, die Lehre der Kirche durch Vernunft zu erkennen. Dieser Punkt ist der Anfang der Philosophie, der ihr ganzes Interesse ausmacht. Der eine Gegensatz ist Sein, der andere Denken; das ist das Absolute, das beide Gegensätze in sich enthält, – ein Begriff (nach Spinoza), der sein Sein zugleich in sich schließt. Gegen Anselmus ist zu bemerken, daß die Weise des Verstandes, des scholastischen Räsonierens darin vorhanden ist. α) Es ist, sagt man, der Gedanke eines Höchsten; diese Bestimmung wird als das prius vorausgesetzt. β) Das zweite ist: »Es gibt zweierlei: ein Gedachtes, das ist, und ein Gedachtes, das nicht ist; dieses ist der Gegensatz. Der Gegenstand, der nur gedacht ist, nicht seiend, ist unvollkommener Inhalt; ebenso: ein Inhalt, der nur ist, ohne gedacht zu werden, wäre ebenso unvollkommen.« (Davon spricht man aber nicht; in der Tat, ist Gott nur Sein, würde er nicht gewußt von sich selbst als Selbstbewußtsein von sich selbst; so wäre er nicht Geist, ein Denken, das sich denkt.) »γ) Das Höchste muß also auch sein.« Das ist Gang des Verstandes (der Inhalt ist richtig, die Form mangelhaft): Das Höchste, die Voraussetzung, ist Maßstab, an dem das Weitere gemessen werden soll; – die Bestimmung »ein Gedachtes, das nicht ist« wird darunter subsumiert als unter eine Regel und ist dieser nicht angemessen.

Sein Beweis enthält den Mangel, daß er nach formell logischer Weise gemacht ist; er enthält näher dieses. Wir denken etwas, wir haben einen Gedanken: der Gedanke ist subjektiv[557] einerseits, aber der Inhalt des Gedankens ist das ganz Allgemeine; dies ist nun zunächst als Gedanke, unterschieden davon ist das Sein. Wenn wir so etwas denken, Gott denken (der Inhalt ist gleichgültig), so kann es der Fall sein, daß der Inhalt nicht ist; für das Vollkommenste halten wir das, was der Gedanke ist und zugleich ist. Gott ist das Vollkommenste: wäre er unvollkommen, so hätte er nicht auch die Bestimmung des Seins, und er wäre bloß Gedanke; also müssen wir ihm die Bestimmung des Seins zuschreiben. Denken und Sein ist entgegengesetzt, dies ist ausgesprochen; und wir geben es zu, daß das das Wahrhafte ist, was nicht bloß Denken ist, sondern auch ist. Das Denken müssen wir aber hier nicht als bloß subjektiv nehmen; der Gedanke heißt hier der absolute, der reine Gedanke.

Das Formelle, das Logische, weshalb Kant ihn auch angegriffen und verworfen hat, welcher Verwerfung die ganze Welt hintennachgelaufen ist, wird darein gelegt, daß die Voraussetzung die ist, daß die Einheit des Seins und Denkens die vollkommenste sei. – Zum Begriffe, zum wahrhaften Beweise gehörte, daß der Fortgang nicht verständigerweise geschähe, sondern daß aus der Natur des Denkens selbst gezeigt würde, daß es für sich genommen sich selbst negiert und die Bestimmung des Seins selbst darin liege oder daß das Denken sich selbst zum Sein bestimmt. Umgekehrt müßte ebenso am Sein aufgezeigt werden, daß es seine eigene Dialektik ist, sich selbst aufzuheben, dann sich zu setzen als das Allgemeine, als der Gedanke. – Dieser eigentliche Inhalt, die Einheit des Seins und Denkens, ist der wahrhafte Gehalt, den Anselm vor sich hatte, aber in Form des Verstandes vor sich hatte. Beide Gegensätze sind nur in einer dritten Bestimmung – dem Höchsten –, die insofern als Regel außer ihnen ist, identisch und [nur] an ihm gemessen.

Da ist nun schon zu jener Zeit ein Mönch gewesen, Gaunilo, der gegen diesen Beweis des Anselm einen Liber pro insipiente geschrieben hat; Anselm richtete selbst dagegen seinen [558] Liber apologeticus adversus insipientem. Dieser Mönch kritisiert diesen Beweis, indem er dasselbe aufzeigt als heutigentags Kant, daß das Sein und Denken verschieden sei: mit dem Denken ist noch gar nicht gesetzt, daß es sei. So sagt Kant z.B., wenn wir uns 100 Taler denken, so schließt diese Vorstellung noch nicht das Sein in sich; und das ist richtig. Was nur vorgestellt ist, ist nicht, ist aber auch kein wahrhafter Inhalt. Ein Gedachtes, dessen Inhalt das Denken selbst ist, ist eben dies, sich zum Sein zu bestimmen; was nicht ist, ist nur unwahre Vorstellung. Davon ist aber hier nicht die Rede, sondern von dem reinen Denken; es ist dies auch gar keine Neuigkeit, daß sie verschieden sind, – das wußte Anselm ebensogut. – Gott ist das Unendliche, wie Leib und Seele, Sein und Gedanken auf ewig verbunden sind; dies ist die spekulative, wahrhafte Definition von Gott. Dem Beweise, den Kant kritisiert, so wie es noch jetzt nach seiner Art gang und gäbe ist, fehlt nur die Einsicht in die Einheit des Denkens und Seins beim Unendlichen.

Nur dies muß der Anfang sein. Andere Beweise, so der kosmologische, welcher von der Zufälligkeit der Welt auf ein absolutes Wesen, Sein, schließt, haben damit nicht die Idee des absoluten Wesens als Geist erschöpft, sind ohne Bewußtsein, daß es ein Gedachtes. Der alte physikotheologische, den schon Sokrates hatte, aus der Schönheit, Anordnung, den organischen Zwecken, setzt zwar einen Verstand, ein reicheres Denken des absoluten Wesens, nicht nur das unbestimmte Sein; aber es ist ebenso bewußtlos, daß es die Idee. Und dann, was für ein Verstand ist es? Ein anderer, unmittelbarer. Es ist ebenso Unordnung, – dieser Geist ist für sich; und es muß Anderes begriffen werden als diese erscheinende Ordnung der Natur.[559]

Davon aber, nach dem Dasein Gottes zu fragen, sein Sein, seine gegenständliche Weise zu einem Prädikate zu machen und zu wissen, daß Gott so Idee ist, bis dahin, daß das absolute Wesen Ich = Ich, das denkende Selbstbewußtsein ist, nicht als Prädikat, sondern so, daß Ich, jeder der denkt, das Moment dieses Selbstbewußtseins ist, ist noch ein weiter Schritt. Hier, wo wir diese Form zuerst auftreten sehen, ist das absolute Wesen schlechthin für das Jenseits des endlichen Bewußtseins zu nehmen; dies ist sich das Nichtige und hat sein Selbstgefühl noch nicht erfaßt. Es hat allerhand Gedanken über die Dinge, die Dingheit selbst ist ihm auch Begriff, Prädikat; aber es ist damit noch nicht in sich zurückgekehrt, weiß vom Wesen, nur nicht von sich selbst.

Auch Cur Deus homo hat er auf philosophische Weise betrachtet.

Hiermit hatte Anselm die nähere Grundlage zur scholastischen Theologie gelegt; schon vorher war dasselbe, nur beschränkter, für einzelne Dogmen, auch so bei Anselm. Seine Schriften zeugen von Tiefsinn, Geist. Anselm war es, der die Philosophie der Scholastiker erregte und mit der Philosophie die Theologie verband; die Theologie des Mittelalters steht so viel höher als die der neueren Zeit. Nie sind Katholiken solche Barbaren gewesen, daß über die ewige Wahrheit nicht erkannt, sie nicht philosophisch gefaßt werden sollte. – Dies ist das eine, was bei ihm herauszuheben ist; das andere ist, daß jener höchste Gegensatz in seiner Einheit aufgefaßt ist.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 19, Frankfurt am Main 1979, S. 553-560.
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