5. Formelle Dialektik

[579] Das dialektische Interesse ist aufs Höchste getrieben worden; es wurde ganz formeller Natur. Das Weitere ist die ins Unendliche gehende Erfindung von terminis technicis, wie denn das formelle dialektische Interesse sehr erfinderisch war, sich Gegenstände, Probleme und Fragen, die ohne alles religiöse und philosophische Interesse waren, für diese Behandlungsweise zu kreieren. Das Letzte, was noch von den Scholastikern zu bemerken ist, das ist dies, daß sie nicht nur in den kirchlichen Lehrbegriff alle möglichen formellen Verhältnisse des Verstandes hineingebracht haben, sondern daß auch dieser an sich intelligible Gegenstand, die intellektuellen Vorstellungen und religiösen Ideen (Dogmata oder Phantasien), als unmittelbar sinnlich wirklich dargestellt wurden, in die Äußerlichkeit ganz sinnlicher Verhältnisse heruntergezogen und nach diesen methodisch betrachtet wurden. Ursprünglich lag freilich das Geistige zugrunde; aber die Äußerlichkeit, in der es zunächst aufgefaßt ist, hat das Geistige zugleich zu etwas vollkommen Ungeistigem gemacht. Man kann daher sagen, daß sie den kirchlichen Lehrbegriff einerseits tief behandelt, andererseits, daß sie ihn durch ganz ungeeignete äußerliche Verhältnisse verweltlicht haben; so daß hier der schlechteste Sinn der Weltlichkeit ist, den man nehmen kann. Denn der kirchliche Lehrbegriff enthält für sich ein geschichtliches Moment, eine Bestimmung von äußerlicher Weise, – das christliche Prinzip enthält diesen Zusammenhang in sich selbst. In der geschichtlichen Gestaltung der christlichen Religion findet sich eine Menge von Vorstellungen, die mit dem Geistigen zwar[579] zusammenhängen, aber in sinnliche Verhältnisse hinüberstreifen; werden diese Verhältnisse ausgesponnen, so entsteht eine Menge Gegensätze, Kontraste, Widersprüche, die für uns auch nicht das geringste Interesse haben. Diese Seite haben die Scholastiker aufgefaßt und mit endlicher Dialektik behandelt. Von dieser Zeit hat man sich späterhin unendlich lustig über die Scholastiker gemacht.

Hiervon will ich einige Beispiele geben. Wie die Neugierde in einer Verstandeswissenschaft zu Hause ist, ohne Beziehung auf den Begriff bloß Tatsachen nachgeht, so die scholastische Philosophie gerade das Gegenteil von empirischer Wissenschaft. Es wurde vorzüglich ein Unterschied gemacht zwischen dem eigentlichen Lehrbegriff, der indisputabel war, und den verschiedenen Seiten, Unterscheidungen ihrer übersinnlichen Welt, die demselben angehängt waren; diese wurden betrachtet als freigelassen vom Lehrbegriff der Kirche – oft nur temporär: der Lehrbegriff ist nicht so bestimmt, aus den Kirchenvätern sei alles zu beweisen –, bis ein Konzilium oder partikuläre Synode entschied. Über die Beweise, die vom Inhalt des Lehrbegriffs gegeben wurden, konnte man streiten; und außerdem wurde noch eine Menge von Inhalt aufgefaßt, der disputabel war, über den sie sich in endlichen Syllogismen und Formen ausgelassen haben; Untersuchungen, die in eine ganz leere formelle Disputiersucht ausarteten, – nicht bei den edlen Männern, die als doctores und Schriftsteller bekannt sind.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in zwanzig Bänden. Band 19, Frankfurt am Main 1979, S. 579-580.
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