B. Knotenlinie von Maßverhältnissen

[435] Die letzte Bestimmung des Maßverhältnisses war, daß es als spezifisch ausschließend ist; das Ausschließen kommt der[435] Neutralität als negativer Einheit der unterschiedenen Momente zu. Für diese fürsichseiende Einheit, die Wahlverwandtschaft, hat sich in Ansehung ihrer Beziehung auf die anderen Neutralitäten kein weiteres Prinzip der Spezifikation ergeben; diese bleibt nur in der quantitativen Bestimmung der Affinität überhaupt, nach der es bestimmte Mengen sind, welche sich neutralisieren und damit anderen relativen Wahlverwandtschaften ihrer Momente gegenüberstehen. Aber ferner um der quantitativen Grundbestimmung willen kontinuiert sich die ausschließende Wahlverwandtschaft auch in die ihr anderen Neutralitäten, und diese Kontinuität ist nicht nur äußerliche Beziehung der verschiedenen Neutralitätsverhältnisse als eine Vergleichung, sondern die Neutralität hat als solche eine Trennbarkeit in ihr, indem die, aus deren Einheit sie geworden ist, als selbständige Etwas – jedes als gleichgültig, mit diesem oder mit anderen der gegenüberstehenden Reihe, obzwar in verschiedenen spezifisch bestimmten Mengen sich zu verbinden – in Beziehung treten. Dadurch ist dies Maß, das auf einem solchen Verhältnisse in ihm selbst beruht, mit eigener Gleichgültigkeit behaftet; es ist ein an ihm selbst Äußerliches und in seiner Beziehung auf sich ein Veränderliches.

Diese Beziehung des Verhältnismaßes auf sich ist verschieden von seiner Äußerlichkeit und Veränderlichkeit als seiner quantitativen Seite; es ist, als Beziehung auf sich gegen diese, eine seiende, qualitative Grundlage, – bleibendes, materielles Substrat, welches, zugleich als die Kontinuität des Maßes in seiner Äußerlichkeit mit sich selbst, in seiner Qualität jenes Prinzip der Spezifikation dieser Äußerlichkeit enthalten müßte.

Das ausschließende Maß nach dieser näheren Bestimmung nun, in seinem Fürsichsein sich äußerlich, stößt sich von sich selbst ab, setzt sich sowohl als ein anderes, nur quantitatives, als auch als ein solches anderes Verhältnis, das zugleich ein anderes Maß ist, – ist als an sich selbst spezifizierende Einheit bestimmt, welche an ihr Maßverhältnisse produziert.[436] Diese Verhältnisse sind von der obigen Art der Affinitäten, in welchen ein Selbständiges sich zu Selbständigen anderer Qualität und zu einer Reihe solcher verhält, verschieden; sie finden an einem und demselben Substrate, innerhalb derselben Momente der Neutralität statt; das Maß bestimmt sich von sich abstoßend zu anderen nur quantitativ verschiedenen Verhältnissen, welche gleichfalls Affinitäten und Maße bilden, abwechselnd mit solchen, welche nur quantitative Verschiedenheiten bleiben. Sie bilden auf solche Weise eine Knotenlinie von Maßen auf einer Skala des Mehr und Weniger.

Es ist ein Maßverhältnis vorhanden; eine selbständige Realität, die qualitativ von anderen unterschieden ist. Ein solches Fürsichsein ist, weil es zugleich wesentlich ein Verhältnis von Quantis ist, der Äußerlichkeit und der Quantumsveränderung offen; es hat eine Weile, innerhalb derer es gegen diese Veränderung gleichgültig bleibt und seine Qualität nicht ändert. Aber es tritt ein Punkt dieser Änderung des Quantitativen ein, auf welchem die Qualität geändert wird, das Quantum sich als spezifizierend erweist, so daß das veränderte quantitative Verhältnis in ein Maß und damit in eine neue Qualität, ein neues Etwas, umgeschlagen ist. Das Verhältnis, das an die Stelle des ersten getreten, ist durch dieses bestimmt teils nach der qualitativen Dieselbigkeit der Momente, die in Affinität stehen, teils nach der quantitativen Kontinuität. Aber indem der Unterschied in dieses Quantitative fällt, verhält sich das neue Etwas gleichgültig gegen das vorhergehende; ihr Unterschied ist der äußerliche des Quantums. Es ist also nicht aus dem vorhergehenden, sondern unmittelbar aus sich hervorgetreten, d. i. aus der innerlichen, noch nicht ins Dasein getretenen spezifizierenden Einheit. – Die neue Qualität oder das neue Etwas ist demselben Fortgange seiner Veränderung unterworfen und so fort ins Unendliche.

Insofern der Fortgang von einer Qualität in stetiger Kontinuität der Quantität ist, sind die einem qualifizierenden[437] Punkte sich nähernden Verhältnisse, quantitativ betrachtet, nur durch das Mehr und Weniger unterschieden. Die Veränderung ist nach dieser Seite eine allmähliche. Aber die Allmählichkeit betrifft bloß das Äußerliche der Veränderung, nicht das Qualitative derselben; das vorhergehende quantitative Verhältnis, das dem folgenden unendlich nahe ist, ist noch ein anderes qualitatives Dasein. Nach der qualitativen Seite wird daher das bloß quantitative Fortgehen der Allmählichkeit, das keine Grenze an sich selbst ist, absolut abgebrochen; indem die neu eintretende Qualität nach ihrer bloß quantitativen Beziehung eine gegen die verschwindende unbestimmt andere, eine gleichgültige ist, ist der Übergang ein Sprung, beide sind als völlig äußerliche gegeneinander gesetzt. – Man sucht sich gern durch die Allmählichkeit des Übergangs eine Veränderung begreiflich zu machen; aber vielmehr ist die Allmählichkeit gerade die bloß gleichgültige Änderung, das Gegenteil der qualitativen. In der Allmählichkeit ist vielmehr der Zusammenhang der beiden Realitäten – sie werden als Zustände oder als selbständige Dinge genommen – aufgehoben; es ist gesetzt, daß keine die Grenze der anderen, sondern eine der anderen schlechthin äußerlich ist; hiermit wird gerade das, was zum Begreifen nötig ist, wenn auch noch sowenig dazu erfordert wird, entfernt.


Anmerkung

Das natürliche Zahlensystem zeigt schon eine solche Knotenlinie von qualitativen Momenten, die sich in dem bloß äußerlichen Fortgang hervortun. Es ist einesteils ein bloß quantitatives Vor- und Zurückgehen, ein fortwährendes Hinzutun oder Wegnehmen, so daß jede Zahl dasselbe arithmetische Verhältnis zu ihrer vorhergehenden und nachfolgenden hat als diese zu ihrer vorhergehenden und nachfolgenden usf. Aber die hierdurch entstehenden Zahlen haben auch zu anderen vorhergehenden oder folgenden ein spezifisches Verhältnis, entweder ein solches Vielfaches von[438] einer derselben, als eine ganze Zahl ausdrückt, oder Potenz und Wurzel zu sein. – In den musikalischen Verhältnissen tritt ein harmonisches Verhältnis in der Skala des quantitativen Fortgehens durch ein Quantum ein, ohne daß dieses Quantum für sich auf der Skala zu seinem vorhergehenden und nachfolgenden ein anderes Verhältnis hätte als diese wieder zu ihren vorhergehenden und nachfolgenden. Indem folgende Tone vom Grundtone sich immer mehr zu entfernen oder Zahlen durch das arithmetische Fortgehen nur noch mehr andere zu werden scheinen, tut sich vielmehr auf einmal eine Rückkehr, eine überraschende Übereinstimmung hervor, die nicht durch das unmittelbar Vorhergehende qualitativ vorbereitet war, -sondern als eine actio in distans, als eine Beziehung zu einem Entfernten, erscheint; der Fortgang an bloß gleichgültigen Verhältnissen, welche die vorhergehende spezifische Realität nicht ändern oder auch überhaupt keine solche bilden, unterbricht sich auf einmal, und indem er in quantitativer Rücksicht auf dieselbe Weise fortgesetzt ist, bricht somit durch einen Sprung ein spezifisches Verhältnis ein.

In chemischen Verbindungen kommen bei der progressiven Änderung der Mischungsverhältnisse solche qualitative Knoten und Sprünge vor, daß zwei Stoffe auf besonderen Punkten der Mischungsskala Produkte bilden, welche besondere Qualitäten zeigen. Diese Produkte unterscheiden sich nicht bloß durch ein Mehr und Weniger voneinander, noch sind sie mit den Verhältnissen, die jenen Knotenverhältnissen naheliegen, schon vorhanden, etwa nur in einem schwächeren Grade, sondern sind an solche Punkte selbst gebunden. 2. B. die Verbindungen von Sauerstoff und Stickstoff geben die verschiedenen Stickstoffoxyde und Salpetersäure die nur an bestimmten Quantitäts verhältnissen der Mischung hervortreten und wesentlich verschiedene Qualitäten haben, so daß in dazwischenliegenden Mischungsverhältnissen keine Verbindungen von spezifischen Existenzen erfolgen. – Die Metalloxyde, z.B. die Bleioxyde, bilden sich auf gewissen[439] quantitativen Punkten der Oxydation und unterscheiden sich durch Farben und andere Qualitäten. Sie gehen nicht allmählich ineinander über; die zwischen jenen Knoten liegenden Verhältnisse geben kein neutrales, kein spezifisches Dasein. Ohne durch Zwischenstufen durchgegangen zu sein, tritt eine spezifische Verbindung auf, die auf einem Maßverhältnisse beruht und eigene Qualitäten hat. – Oder das Wasser, indem es seine Temperatur ändert, wird damit nicht bloß mehr oder weniger warm, sondern geht durch die Zustände der Härte, der tropfbaren Flüssigkeit und der elastischen Flüssigkeit hindurch; diese verschiedenen Zustände treten nicht allmählich ein, sondern eben das bloß allmähliche Fortgehen der Temperaturänderung wird durch diese Punkte mit einem Male unterbrochen und gehemmt, und der Eintritt eines anderen Zustandes ist ein Sprung. – Alle Geburt und Tod sind, statt eine fortgesetzte Allmählichkeit zu sein, vielmehr ein Abbrechen derselben und der Sprung aus quantitativer Veränderung in qualitative.

Es gibt keinen Sprung in der Natur, wird gesagt; und die gewöhnliche Vorstellung, wenn sie ein Entstehen oder Vergehen begreifen soll, meint, wie erinnert, es damit begriffen zu haben, daß sie es als ein allmähliches Hervorgehen oder Verschwinden vorstellt. Es hat sich aber gezeigt, daß die Veränderungen des Seins überhaupt nicht nur das Übergehen einer Größe in eine andere Größe, sondern Übergang vom Qualitativen in das Quantitative und umgekehrt sind, ein Anderswerden, das ein Abbrechen des Allmählichen und ein qualitativ Anderes gegen das vorhergehende Dasein ist. Das Wasser wird durch die Erkältung nicht nach und nach hart, so daß es breiartig würde und allmählich bis zur Konsistenz des Eises sich verhärtete, sondern ist auf einmal hart; schon mit der ganzen Temperatur des Eispunktes, wenn es ruhig steht, kann es noch seine ganze Flüssigkeit haben, und eine geringe Erschütterung bringt es in den Zustand der Härte.

Bei der Allmählichkeit des Entstehens liegt die Vorstellung zugrunde, daß das Entstehende schon sinnlich oder überhaupt [440] wirklich vorhanden, nur wegen seiner Kleinheit noch nicht wahrnehmbar, sowie bei der Allmählichkeit des Verschwindens, daß das Nichtsein oder das Andere, an seine Stelle Tretende gleichfalls vorhanden, nur noch nicht bemerkbar sei, – und zwar vorhanden nicht in dem Sinne, daß das Andere in dem vorhandenen Anderen an sich enthalten, sondern daß es als Dasein, nur unbemerkbar, vorhanden sei. Es wird damit das Entstehen und Vergehen überhaupt aufgehoben oder das Ansich, das Innere, in welchem etwas vor seinem Dasein ist, in eine Kleinheit des äußerlichen Daseins verwandelt und der wesentliche oder der Begriffsunterschied in einen äußerlichen, bloßen Größenunterschied. – Das Begreiflichmachen eines Entstehens oder Vergehens aus der Allmählichkeit der Veränderung hat die der Tautologie eigene Langweiligkeit; es hat das Entstehende oder Vergehende schon vorher ganz fertig und macht die Veränderung zu einer bloßen Änderung eines äußerlichen Unterschiedes, wodurch sie in der Tat nur eine Tautologie ist. Die Schwierigkeit für solchen begreifen wollenden Verstand liegt in dem qualitativen Übergang von Etwas in sein Anderes überhaupt und in sein Entgegengesetztes; dagegen spiegelt er sich die Identität und die Veränderung als die gleichgültige, äußerliche des Quantitativen vor.

Im Moralischen, insofern es in der Sphäre des Seins betrachtet wird, findet derselbe Übergang des Quantitativen ins Qualitative statt, und verschiedene Qualitäten erscheinen, sich auf eine Verschiedenheit der Größe zu gründen. Es ist ein Mehr und Weniger, wodurch das Maß des Leichtsinns überschritten wird und etwas ganz anderes, Verbrechen, hervortritt, wodurch Recht in Unrecht, Tugend in Laster übergeht. – So erhalten auch Staaten durch ihren Größenunterschied, wenn das Übrige als gleich angenommen wird, einen verschiedenen qualitativen Charakter. Gesetze und Verfassung werden zu etwas anderem, wenn der Umfang des Staats und die Anzahl der Bürger sich erweitert. Der Staat hat ein Maß seiner Größe, über welches hinausgetrieben[441] er haltungslos in sich zerfällt unter derselben Verfassung, welche bei nur anderem Umfange sein Glück und seine Stärke ausmachte.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 5, Frankfurt a. M. 1979, S. 435-442.
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