Erstes Kapitel
Das Leben

[469] Die Idee des Lebens betrifft einen so konkreten und, wenn man will, reellen Gegenstand, daß mit derselben nach der gewöhnlichen Vorstellung der Logik ihr Gebiet überschritten zu werden scheinen kann. Sollte die Logik freilich nichts als leere, tote Gedankenformen enthalten, so könnte in ihr überhaupt von keinem solchen Inhalte, wie die Idee oder das Leben ist, die Rede sein. Wenn aber die absolute Wahrheit der Gegenstand der Logik und die Wahrheit als solche wesentlich im Erkennen ist, so müßte das Erkennen wenigstens abgehandelt werden, – Der sogenannten reinen Logik pflegt man denn auch gewöhnlich eine angewandte Logik folgen zu lassen – eine Logik, welche es mit dem konkreten Erkennen zu tun hat, die viele Psychologie und Anthropologie nicht mitgerechnet, deren Einflechtung in die Logik häufig für nötig erachtet wird. Die anthropologische und psychologische Seite des Erkennens aber betrifft dessen Erscheinung, in welcher der Begriff für sich selbst noch nicht dieses ist, eine ihm gleiche Objektivität, d.i. sich selbst zum Objekte[469] zu haben. Der Teil der Logik, der dasselbe betrachtet, gehört nicht zur angewandten Logik als solcher; so wäre jede Wissenschaft in die Logik hereinzuziehen, denn jede ist insofern eine angewandte Logik, als sie darin besteht, ihren Gegenstand in Formen des Gedankens und Begriffs zu fassen. – Der subjektive Begriff hat Voraussetzungen, die in psychologischer, anthropologischer und sonstiger Form sich darstellen. In die Logik aber gehören nur die Voraussetzungen des reinen Begriffs, insofern sie die Form von reinen Gedanken, von abstrakten Wesenheiten haben, die Bestimmungen des Seins und Wesens. Ebenso sind vom Erkennen, dem Sich-selbst-Erfassen des Begriffs, nicht die anderen Gestalten seiner Voraussetzung, sondern nur diejenige, welche selbst Idee ist, in der Logik abzuhandeln; aber diese ist notwendig in ihr zu betrachten. Diese Voraussetzung nun ist die unmittelbare Idee; denn indem das Erkennen der Begriff ist, insofern er für sich selbst, aber als Subjektives in Beziehung auf Objektives ist, so bezieht er sich auf die Idee als vorausgesetzte oder unmittelbare. Die unmittelbare Idee aber ist das Leben.

Insofern würde sich die Notwendigkeit, die Idee des Lebens in der Logik zu betrachten, auf die auch sonst anerkannte Notwendigkeit, den konkreten Begriff des Erkennens hier abzuhandeln, gründen. Diese Idee hat sich aber durch die eigene Notwendigkeit des Begriffes herbeigeführt; die Idee, das an und für sich Wahre, ist wesentlich Gegenstand der Logik; da sie zuerst in ihrer Unmittelbarkeit zu betrachten ist, so ist sie in dieser Bestimmtheit, in welcher sie Leben ist, aufzufassen und zu erkennen, damit ihre Betrachtung nicht etwas Leeres und Bestimmungsloses sei. Es kann nur etwa zu bemerken sein, inwiefern die logische Ansicht des Lebens von anderer wissenschaftlicher Ansicht desselben unterschieden ist; jedoch gehört hierher nicht, wie in unphilosophischen Wissenschaften von ihm gehandelt wird, sondern nur, wie das logische Leben als reine Idee von dem Naturleben, das in der Naturphilosophie betrachtet wird, und von dem Leben,[470] insofern es mit dem Geiste in Verbindung steht, zu unterscheiden ist. – Das erstere ist als das Leben der Natur das Leben, insofern es in die Äußerlichkeit des Bestehens hinausgeworfen ist, an der unorganischen Natur seine Bedingung hat, und [insofern] wie die Momente der Idee eine Mannigfaltigkeit wirklicher Gestaltungen sind. Das Leben in der Idee ist ohne solche Voraussetzungen, welche als Gestalten der Wirklichkeit sind; seine Voraussetzung ist der Begriff, wie er betrachtet worden ist, einerseits als subjektiver, andererseits als objektiver. In der Natur erscheint das Leben als die höchste Stufe, welche von ihrer Äußerlichkeit dadurch erreicht wird, daß sie in sich gegangen ist und sich in der Subjektivität aufhebt. In der Logik ist es das einfache Insichsein, welches in der Idee des Lebens seine ihm wahrhaft entsprechende Äußerlichkeit erreicht hat; der Begriff, der als subjektiver früher auftritt, ist die Seele des Lebens selbst; er ist der Trieb, der sich durch die Objektivität hindurch seine Realität vermittelt. Indem die Natur von ihrer Äußerlichkeit aus diese Idee erreicht, geht sie über sich hinaus; ihr Ende ist nicht als ihr Anfang, sondern als ihre Grenze, worin sie sich selbst aufhebt, – Ebenso erhalten in der Idee des Lebens die Momente seiner Realität nicht die Gestalt äußerlicher Wirklichkeit, sondern bleiben in die Form des Begriffes eingeschlossen.

Im Geiste aber erscheint das Leben teils ihm gegenüber, teils als mit ihm in eins gesetzt und diese Einheit wieder durch ihn rein herausgeboren. Das Leben ist hier nämlich überhaupt in seinem eigentlichen Sinne als natürliches Leben zu nehmen, denn was das Leben des Geistes als Geistes genannt wird, ist seine Eigentümlichkeit, welche dem bloßen Leben gegenübersteht; wie auch von der Natur des Geistes gesprochen wird, obgleich der Geist kein Natürliches und vielmehr der Gegensatz zur Natur ist. Das Leben als solches also ist für den Geist teils Mittel, so stellt er es sich gegenüber; teils ist er lebendiges Individuum und das Leben sein Körper, teils wird diese Einheit seiner mit seiner lebendigen Körperlichkeit[471] aus ihm selbst zum Ideal herausgeboren. Keine dieser Beziehungen auf den Geist geht das logische Leben an, und es ist hier weder als Mittel eines Geistes, noch als sein lebendiger Leib, noch als Moment des Ideals und der Schönheit zu betrachten. – Das Leben hat in beiden Fällen, wie es natürliches [ist] und wie es mit dem Geiste in Beziehung steht, eine Bestimmtheit seiner Äußerlichkeit, dort durch seine Voraussetzungen, welches andere Gestaltungen der Natur sind, hier aber durch die Zwecke und Tätigkeit des Geistes. Die Idee des Lebens für sich ist frei von jener vorausgesetzten und bedingenden Objektivität sowie von der Beziehung auf diese Subjektivität.

Das Leben, in seiner Idee nun näher betrachtet, ist an und für sich absolute Allgemeinheit, die Objektivität, welche es an ihm hat, ist vom Begriffe schlechthin durchdrungen, sie hat nur ihn zur Substanz. Was sich als Teil oder nach sonstiger äußerer Reflexion unterscheidet, hat den ganzen Begriff in sich selbst; er ist die darin allgegenwärtige Seele, welche einfache Beziehung auf sich selbst und eins in der Mannigfaltigkeit bleibt, die dem objektiven Sein zukommt. Diese Mannigfaltigkeit hat als die sich äußerliche Objektivität ein gleichgültiges Bestehen, das im Räume und in der Zeit, wenn diese hier schon erwähnt werden könnten, ein ganz verschiedenes und selbständiges Außereinander ist. Aber die Äußerlichkeit ist im Leben zugleich als die einfache Bestimmtheit seines Begriffs; so ist die Seele allgegenwärtig in diese Mannigfaltigkeit ausgegossen und bleibt zugleich schlechthin das einfache Einssein des konkreten Begriffs mit sich selbst. – Am Leben, an dieser Einheit seines Begriffs in der Äußerlichkeit der Objektivität, in der absoluten Vielheit der atomistischen Materie, gehen dem Denken, das sich an die Bestimmungen der Reflexionsverhältnisse und des formalen Begriffes hält, schlechthin alle seine Gedanken aus; die Allgegenwart des Einfachen in der vielfachen Äußerlichkeit ist für die Reflexion ein absoluter Widerspruch und, insofern sie dieselbe zugleich aus der Wahrnehmung des[472] Lebens auffassen, hiermit die Wirklichkeit dieser Idee zugeben muß, ein unbegreifliches Geheimnis, weil sie den Begriff nicht erfaßt und den Begriff nicht als die Substanz des Lebens. – Das einfache Leben ist aber nicht nur allgegenwärtig, sondern schlechthin das Bestehen und die immanente Substanz seiner Objektivität, aber als subjektive Substanz Trieb, und zwar der spezifische Trieb des besonderen Unterschiedes und ebenso wesentlich der eine und allgemeine Trieb des Spezifischen, der diese seine Besonderung in die Einheit zurückführt und darin erhält. Das Leben ist nur als diese negative Einheit seiner Objektivität und Besonderung sich auf sich beziehendes, für sich seiendes Leben, eine Seele. Es ist damit wesentlich Einzelnes, welches auf die Objektivität sich als auf ein Anderes, eine unlebendige Natur bezieht. Das ursprüngliche Urteil des Lebens besteht daher darin, daß es sich als individuelles Subjekt gegen das Objektive abscheidet und, indem es sich als die negative Einheit des Begriffs konstituiert, die Voraussetzung einer unmittelbaren Objektivität macht.

Das Leben ist daher erstlich zu betrachten als lebendiges Individuum, das für sich die subjektive Totalität und als gleichgültig vorausgesetzt ist gegen eine ihm als gleichgültig gegenüberstehende Objektivität.

Zweitens ist es der Lebensprozeß, seine Voraussetzung aufzuheben, die gegen dasselbe gleichgültige Objektivität als negativ zu setzen und sich als ihre Macht und negative Einheit zu verwirklichen. Damit macht es sich zum Allgemeinen, das die Einheit seiner selbst und seines Anderen ist. Das Leben ist daher

drittens der Prozeß der Gattung, seine Vereinzelung aufzuheben und sich zu seinem objektiven Dasein als zu sich selbst zu verhalten. Dieser Prozeß ist hiermit einerseits die Rückkehr zu seinem Begriffe und die Wiederholung der ersten Diremtion, das Werden einer neuen und der Tod der ersten unmittelbaren Individualität; andererseits aber ist der in sich gegangene Begriff des Lebens das Werden des sich zu[473] sich selbst verhaltenden, als allgemein und frei für sich existierenden Begriffes, der Übergang in das Erkennen.

Quelle:
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Band 6, Frankfurt a. M. 1979, S. 469-474.
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