16. Kapitel
Von dem Reich Gottes nach dem Alten Testament

[262] 1. Das Bewußtsein der eigenen Schwäche und die Bewunderung der Naturereignisse bringt die Menschheit dahin, daß die meisten Gott für den unsichtbaren Schöpfer aller sichtbaren Dinge halten und ihn fürchten, da sie wissen, daß sie selbst sich nicht hinreichend beschützen können. Der unvollkommene Gebrauch ihrer Vernunft und die Heftigkeit ihrer Leidenschaft hindern sie aber an der wahren und rechten Gottesverehrung. Die Furcht vor dem Unsichtbaren wird zum Aberglauben, wenn sie sich von der rechten Vernunft trennt. Deshalb war es den Menschen beinahe unmöglich, ohne die besondere Hilfe Gottes die doppelte Klippe des Atheismus und des Aberglaubens zu vermeiden, denn dieser kommt von der Furcht, die von der rechten Vernunft sich getrennt hat, jener von den Meinungen einer Vernünftigkeit, welcher die Furcht abgeht. Deshalb fand der Götzendienst so leicht bei dem größten Teile des Menschengeschlechts Eingang; beinahe alle Völker verehrten Gott in Bildern und in der Gestalt endlicher Dinge; und sie beteten Geister oder eingebildete Wesen an, die sie aus Furcht Dämonen nannten. Indes gefiel es der göttlichen Majestät, wie in der Heiligen Schrift zu lesen ist, aus dem menschlichen Geschlecht den Abraham auszuerwählen, damit er die Menschen zu dem wahren Gottesdienst anleite. Diesem hat sich Gott in übernatürlicher Weise offenbart, und mit ihm und seinem Samen ist er jenen feierlichen Vertrag eingegangen, welcher der Alte Bund oder das Alte Testament heißt. Abraham ist also das Haupt der wahren Religion: er hat nach der Sündflut[262] zuerst gelehrt, daß es einen Gott gebe, der der Schöpfer des Weltalls sei. Und von ihm hat das vertragsmäßige Reich Gottes seinen Anfang genommen. (Josephus, »Jüdische Altertümer«, Buch 1, Kap. 7.)

2. Im Beginn der Welt hat Gott nicht bloß in natürlicher Weise, sondern auch durch Vertrag über Adam und Eva geherrscht; er scheint deshalb neben dem von der natürlichen Vernunft gebotenen Gehorsam nur noch den durch Vertrag bestimmten, d.h. den auf der Einwilligung der Menschen beruhenden Gehorsam verlangt zu haben. Indes ist jener Vertrag gleich damals ungültig geworden und später nicht wieder erneuert worden, und der Ursprung des Reichs Gottes (von dem ich hier handle) kann also daraus nicht abgeleitet werden. Doch will ich hierbei bemerken, daß durch das Verbot, nicht von dem Baume der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen (mag dadurch das Urteil über das Gute und Böse oder das Essen der Frucht eines Baumes verboten worden sein), Gott für seine Gebote den unbedingten Gehorsam verlangt hat, ohne eine Untersuchung, ob das Gebotene gut oder böse sei, zuzulassen. Denn in der Natur einer Baumfrucht liegt, abgesehen von dem Verbote, nichts, was das Essen derselben zu einem moralisch Bösen, d.h. zu einer Sünde hätte machen können.

3. Der Vertrag zwischen Gott und Abraham ist nach 1. Buch Mosis 17, 7 u. 8 dahin geschlossen worden: »Es soll ein Vertrag zwischen mir und dir sein und ein ewiges Bündnis mit deinem Samen in deinen Nachkommen, daß ich dein Gott und der Gott deines Samens nach dir in Ewigkeit bin. Und ich werde dir und deinem Samen das Land deiner Pilgerschaft, das ganze Land Kanaan, zum ewigen Besitz geben, und ich werde ihr Gott sein.« Damit aber Abraham und sein Samen die Kenntnis dieses Vertrags sich bewahren konnte, war die Einrichtung eines Zeichens nötig; deshalb wurde dem Vertrage die Beschneidung zugefügt, aber nur als ein Zeichen. V. 10, 11 sagt: »Dies ist mein Vertrag, der gelten soll zwischen mir und dir und deinem Samen nach dir. Alles Männliche von euch soll beschnitten werden, und ihr werdet das Fleisch eurer Vorhaut beschneiden, damit es ein Zeichen des Bündnisses zwischen mir und euch[263] sei.« Es ist also vereinbart, Abraham solle Gott als seinen und seines Samens Gott anerkennen, d.h. er solle sich ihm als dem Regierer unterwerfen, wogegen Gott dem Abraham die Erbschaft jenes Landes geben werde, in dem er damals, aber nur als Fremder, wohnte. Abraham solle als Erinnerungszeichen dieses Vertrags für die Beschneidung seiner selbst und seines männlichen Samens sorgen.

4. Da indes Abraham schon vor dem Vertrage Gott als den Schöpfer und König der Welt anerkannt hatte (denn er hatte weder über das Dasein Gottes noch über seine Vorsehung je gezweifelt), war es da nicht überflüssig, daß Gott sich den ihm schon von Natur schuldigen Gehorsam noch durch einen Lohn und Vertrag erwarb, dadurch daß er Abraham das Land Kanaan verhieß, wenn er ihn als seinen Gott annähme, obgleich er es doch schon vorher nach natürlichem Rechte war? Deshalb können allerdings die Worte: »daß ich dein Gott und der Gott deines Samens nach dir sei«, nicht bedeuten, daß es für diesen Vertrag genügen würde, wenn Abraham die Macht und Herrschaft Gottes, die er über alle Menschen von Natur hat, bloß anerkennt, d.h. wenn er Gott unbeschränkt anerkennt, wie es die natürliche Vernunft verlangt; sondern Abraham muß ihn bestimmt als den Gott anerkennen, der zu ihm sagte (1. Buch Mosis 12, 1, 2): »Gehe aus deinem Lande« usw., und 1. Buch Mosis 13, 14: »Hebe deine Augen auf« usw., als den, der ihm nach 1. Buch Mosis 18, 1, 2 unter dem Bilde dreier himmlischer Männer erschien, und nach 1. Buch Mosis 15, 1 in einem Gesicht und nach 15, 13 einem Traume, der den Glauben verlangt. In welcher Gestalt Gott dem Abraham erschienen ist und in welchem Tone er ihn angeredet hat, ist nicht angegeben. Aber es steht fest, daß Abraham jene Stimme für die Stimme Gottes und eine wahre Offenbarung hielt, und daß er wollte, daß die Seinigen den, der so mit ihm geredet, als Gott, den Schöpfer der Welt, verehren sollten; Abrahams Glaube gründete sich nicht darauf, daß er glaubte, daß Gott existiert oder daß Gott seine Versprechen wahrhaft hält (was ja alle Menschen glauben), sondern daß er nicht daran zweifelte, daß der, dessen Stimme und Versprechen er gehört hatte, Gott sei. Deshalb bedeutete »Gott Abrahams« nicht einfach Gott,[264] sondern den Gott, der ihm erschienen war; und deshalb war die Verehrung, welche Abraham Gott unter diesem Begriff schuldete, nicht eine Verehrung der Vernunft, sondern der Religion und des Glaubens, und nicht die, welche die Vernunft, sondern welche Gott in übernatürlicher Weise geoffenbart hatte.

5. Dagegen finden wir keine Gesetze, die Gott dem Abraham, oder die Abraham seiner Familie damals oder später in weltlichen oder heiligen Dingen gegeben hätte; mit Ausnahme der Vorschrift über die Beschneidung, die in dem Vertrage selbst enthalten ist. Hieraus erhellt, daß für Abraham keine anderen Gesetze und keine andere Gottesverehrung außer den natürlichen Gesetzen, dem von der Vernunft gebotenen Gottesdienst und der Beschneidung bestanden haben.

6. Abraham war bei den Seinigen der Ausleger aller Gesetze, sowohl der heiligen wie der weltlichen; teils in natürlicher Weise, wenn er sich bloß auf die natürlichen Gesetze stützte, teils nach den Worten des Vertrags, in welchem von Abraham nicht bloß für sich, sondern auch für seinen Samen Gehorsam versprochen wird; und das wäre zwecklos gewesen, wenn seine Nachkommen nicht seinen Geboten hätten gehorchen müssen. Auch Gott sagt 1. Buch Mosis 18, 18, 19: »Es sollen in ihm alle Völker der Erde gesegnet sein; denn ich weiß, daß er seinen Kindern und seinem Hause nach ihm lehren wird, die Wege des Herrn zu wandeln und Gericht und Gerechtigkeit zu üben.« Wie kann man dies anders verstehn, als daß seine Kinder und sein Haus seinen Geboten gehorsam sein sollen.

7. Hieraus erhellt, daß die Untertanen Abrahams, wenn sie ihm gehorchten, nicht sündigen konnten, vorausgesetzt, daß Abraham ihnen nicht gebot, das Dasein oder die Vorsehung Gottes zu leugnen oder sonst etwas zu tun, was ausdrücklich gegen die Ehre Gottes gegangen wäre. In allen andern Fällen mußte das Wort Gottes allein aus seinem Munde empfangen werden, da er der Ausleger aller Gesetze und Worte Gottes war; denn nur Abraham konnte sie belehren, wer der Gott Abrahams sei, und wie er zu verehren sei. Ebenso konnten nach Abrahams Tode die Untertanen des Isaak und Jakob diesen in allen Dingen[265] aus demselben Grunde ohne Sünde gehorchen, solange sie den Gott Abrahams als ihren Gott erkannten und bekannten. Denn sie hatten sich bedingungslos Gott unterworfen, und zwar eher als dem Abraham, und dann wieder dem Abraham eher als dem Gotte Abrahams, und dem Gotte Abrahams eher als dem Isaak. Deshalb war bei Abrahams Untertanen die Gottesleugnung das einzige Verbrechen gegen die göttliche Majestät; dagegen war es bei ihren Nachkommen auch ein Verbrechen, wenn sie den Gott Abrahams leugneten, d.h. wenn sie Gott anders verehrten, als Abraham angeordnet hatte, also namentlich unter selbstgemachten Bildern20, wie die andern Völker es taten, die deshalb Götzendiener hießen. Damals konnten also die Untertanen leicht unterscheiden, was sie nach den Befehlen der Fürsten zu beachten und was sie zu vermeiden hatten.

8. Wenn ich der Erzählung der Heiligen Schrift weiter folge, so ist dieser Vertrag im 1. Buch Mosis 26, 3 u. 4 mit Isaak, und 1. Buch Mosis 28, 13, 14 mit Jakob erneuert worden. Gott nennt sich da nicht einfach den Gott, dessen Dasein die Natur uns lehrt, sondern ausdrücklich den Gott Abrahams und Isaaks. Als er später denselben Vertrag durch Moses mit dem ganzen Volke Israels erneuern will (2. Buch Mosis 3, 6), sagt er: »Ich bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs.« Als dann dieses Volk in der Wüste am Berge Sinai verweilte, wo es sich in voller Freiheit befand und jeder Unterwerfung unter Menschen, wegen des Andenkens an die in Ägypten ertragene Sklaverei, gänzlich abgeneigt war, da ist allen der alte Vertrag zur Erneuerung nach 2. Buch Mosis 19, 5, 6 mit den Worten vorgelegt worden: »Wenn ihr aber meine Stimme hören und meinen Vertrag einhalten werdet (nämlich den mit Abraham, Isaak und[266] Jakob eingegangenen Vertrag), so sollt ihr von allen Völkern mein besonderes Volk sein, denn mein ist die ganze Erde, und ihr sollt in meinem priesterlichen Reiche sein und mein heiliges Volk sein. Und das ganze Volk antwortete einstimmig und sagte (V. 8): Alles, was Gott gesprochen hat, wollen wir tun.«

9. Bei diesem Bündnis ist unter anderm zu bemerken, daß die Benennung »Reich« vorher nicht gebraucht worden war. Denn wenn auch Gott von Natur und durch den Vertrag mit Abraham ihr König war, so schuldeten sie ihm doch nur den natürlichen Gehorsam und Gottesdienst als seine Untertanen; dagegen schuldeten sie den besondern von Abraham eingerichteten Gottesdienst als Untertanen Abrahams, Isaaks und Jakobs, ihrer natürlichen Fürsten. Denn die Israeliten hatten neben dem natürlichen Worte Gottes aus der rechten Vernunft kein weiteres Wort von Gott empfangen, und es war kein Vertrag zwischen Gott und ihnen geschlossen worden, soweit nicht ihr Wille in dem Willen Abrahams als ihres Fürsten mit befaßt war. Durch den am Berge Sinai abgeschlossenen Vertrag jedoch, in den jeder einzelne eingewilligt hatte, wird das Reich Gottes über sie zu einem besonders eingerichteten. Von dieser Zeit an beginnt jenes in der Heiligen Schrift und den Büchern der Theologen gefeierte Reich Gottes. Hierauf beziehen sich auch die Worte Gottes zu Samuel, als die Israeliten einen König verlangten, 1. Sam. 8, 7: »Nicht dich haben sie verworfen, sondern mich, daß ich nicht über sie herrschen soll«; ferner die Worte Samuels zu den Israeliten, 1. Sam. 12, 12: »Ihr sagt, ein König solle über euch herrschen, während doch Gott euer Herr über euch herrscht«, ferner die Worte in Jerem. 31, 32: »Den Vertrag, welchen ich geschlossen habe usw., als ich über sie geherrscht habe«, und ebenso die Lehre des galiläischen Juden, die Josephus in seinen »Jüdischen Altertümern«, B. 18, Kap. 2 mit den Worten erwähnt: »Judas aus Galiläa hat zuerst das Studium des vierten Weges derer, welche sich der Weisheit befleißigen, eingeführt. Diese stimmen im übrigen mit den Pharisäern überein, nur haben sie eine heftige Neigung zur Freiheit und glauben, daß Gott allein als Herr und Fürst anzuerkennen sei. Sie ertragen deshalb[267] samt ihren Verwandten und liebsten Freunden lieber die ausgesuchtesten Arten von Strafen, als daß sie einen Sterblichen als ihren Herrn anerkennen.«

10. Nachdem das Recht zum Königreiche so durch Vertrag begründet worden war, wollen wir zunächst die Gesetze betrachten, die Gott den Juden gegeben hat. Es sind die allbekannten, nämlich die Zehn Gebote, und jene andern, teils Rechts-, teils Zeremonialgesetze, welche die Bücher Mosis vorn 2. Buche, Kap. 20 bis zum Ende des 3. Buches und zum Tode Mosis enthalten. Von den hauptsächlich aus Moses' Hand überlieferten Gesetzen sind ein Teil schon von natürlicher Verbindlichkeit; da sie von Gott, als dem Gott der Natur, gegeben waren; sie haben schon vor Abraham gegolten. Andere leiten ihre Verbindlichkeit aus dem mit Abraham eingegangenen Vertrage her; Gott hat sie als Gott Abrahams gegeben. Sie galten schon vor Moses' Zeiten wegen dieses Vertrags. Ein anderer Teil verpflichtet nur infolge des zuletzt mit dem Volke selbst geschlossenen Vertrags, und Gott hat sie als der besondere König der Israeliten gegeben. Zur ersten Art gehören alle Befehle in den zehn Geboten, die sich auf die Sitten beziehen, wie: Du sollst deine Eltern ehren; du sollst nicht töten; du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen; du sollst nicht fremdes Gut begehren. Dies sind natürliche Gesetze. Ferner das Gebot: Du sollst den Namen Gottes nicht mißbrauchen; denn es ist ein Teil der natürlichen Gottesverehrung, wie im vorhergehenden Kapitel, Abschn. 13 gezeigt worden ist. Ferner das zweite Gebot: Du sollst Gott nicht in einem von dir selbst gemachten Bilde anbeten; denn es gehört auch, wie dort gezeigt worden, zur natürlichen Religion. Zur zweiten Art gehört das erste Gebot, daß man nicht andere Götter haben solle; denn darin bestand das Wesen des Vertrags mit Abraham, in dem Gott nur verlangt, daß er sein und seines Samens Gott sein solle. Ferner das Gebot, daß der Sabbat heilig gehalten werden solle; denn die Heilighaltung des siebenten Tages ist zum Andenken an die sechstägige Schöpfung eingerichtet worden, wie aus den Worten 2. Buch Mosis 31, 16, 17 erhellt: »Er (nämlich der Sabbat) ist in Ewigkeit zwischen mir und den[268] Kindern Israels ausgemacht worden, als ein ewiges Zeichen; denn der Herr schuf in sechs Tagen Himmel und Erde, und am siebenten Tage hat er von seinem Werke ausgeruht.« Zur dritten Art gehören die politischen, gerichtlichen und gottesdienstlichen Gesetze, welche die Juden allein angehen. Die auf steinerne Tafeln geschriebenen Gesetze der ersten und zweiten Art, nämlich die zehn Gebote, wurden in der Bundeslade selbst aufbewahrt; die übrigen waren in das Buch aller Gesetze eingeschrieben und wurden auf einer Seite der Bundeslade verwahrt, 5. Buch Mosis 31, 26. Denn sie konnten ohne Bruch des Vertrags mit Abraham geändert werden, was bei den beiden andern nicht anging.

11. Alle Gesetze Gottes sind seine Worte, aber umgekehrt ist nicht jedes Wort Gottes ein Gesetz. So ist es ein Wort Gottes: »Ich bin Gott dein Herr, der dich aus dem Lande Ägypten geführt hat«, aber es ist kein Gesetz. Auch ist nicht alles, was zur Erklärung des Wortes Gottes mit ihm zusammen ausgesprochen oder geschrieben wird, damit auch ein Wort Gottes. Denn wenn es heißt: »Das sagt der Herr«, so ist dies nicht die Stimme Gottes, sondern die des Predigers oder Propheten. All das, und nur das, ist das Wort Gottes, was Gott nach Versicherung eines wahren Propheten gesprochen hat. Die Schriften, der Propheten, die sowohl die Worte Gottes, wie auch die der Propheten enthalten, heißen das Wort Gottes, weil sie dasselbe mit enthalten. Da aber all das, und das allein, Gottes Wort ist, was von einem wahren Propheten für ein solches erklärt wird, so kennt man Gottes Wort nicht eher, als bis man weiß, wer ein wahrer Prophet ist; und man kann dem Worte Gottes nicht eher glauben, als bis man dem Propheten glaubt. Dem Moses hat das israelitische Volk aus zwei Gründen geglaubt, wegen seiner Wunder und wegen seiner Lehre. Denn wenn er auch noch so große und augenscheinliche Wunder verrichtet hätte, so würden sie ihm doch nicht geglaubt haben, oder hätten wenigstens ihm nicht glauben dürfen, wenn er sie zu einem andern Gottesdienst aus Ägypten geführt hätte, als zu dem Gottesdienst Abrahams, Jsaaks und Jakobs, ihrer Väter; denn dies wäre gegen ihren mit Gott eingegangenen Vertrag gewesen.[269] In gleicher Weise hat Gott allen Juden zweierlei als Kennzeichen eines wahren Propheten angegeben, nämlich die übernatürliche Prophezeiung kommender Dinge, die ein ungeheures Wunder ist, und den Glauben an den Gott Abrahams, der sie aus Ägypten befreit hat. Wem eins dieser Kennzeichen fehlt, der ist kein Prophet, und was er als Gottes Wort hinstellt, kann nicht als das Wort Gottes gelten. Fehlt ihm der Glaube, so wird er im 5. Buch Mosis 13, 1-5 mit folgenden Worten verworfen: »Wenn ein Prophet in eurer Mitte aufsteht, der sagt, daß er ein Gesicht gesehen habe, und der ein Zeichen oder Schrecknis vorausgesagt hat, was eingetroffen ist, und dieser Prophet sagt: Laßt uns gehen und andern Göttern folgen usw., so soll dieser Prophet oder Erfinder von Träumen getötet werden.« Wenn dagegen die Prophezeiung kommender Ereignisse fehlt, so wird er im 5. Buch Mosis 18, 21 u. 22 mit den Worten verworfen: »Wenn du im stillen fragst, wie kann ich erkennen, daß er Gottes Wort nicht gesprochen habe? so nimm dies als Zeichen: Alles, was der Prophet im Namen Gottes vorausgesagt hat und was nicht eingetroffen ist, das hat der Herr nicht gesprochen, sondern das hat der Prophet in der Eitelkeit seiner Seele sich ausgedacht.« Somit ist zweifellos nur das Gottes Wort, was ein wahrer Prophet als solches verkündigt hat; und nur der ist ein wahrer Prophet unter den Juden gewesen, dessen Glaube der rechte war und dessen Prophezeiungen eintrafen. Dagegen kann darüber gestritten werden, was es heißt, andern Göttern dienen, und auch darüber, ob Ereignisse, welche die Prophezeiungen bestätigen sollen, ihnen wahrhaft entsprechen. Dies gilt namentlich bei dunkeln und rätselhaften Prophezeiungen von Ereignissen, wie dies beinahe alle Prophezeiungen der Propheten sind, die nicht wie Moses offenbar, sondern »nur in Rätseln und Gestalten Gott sahen«, 4. Buch Mosis 12, 8. Hierüber kann man nur mit Hilfe der natürlichen Vernunft entscheiden, da das Urteil hier von der Auslegung des Propheten und der Vergleichung mit den Ereignissen abhängt.

12. Als das geschriebene Wort Gottes galt bei den Juden das Buch des ganzen Gesetzes, das Deuteronomium hieß; und zwar, soweit sich aus der heiligen Geschichte[270] entnehmen läßt, galt bis zur Zeit der Gefangenschaft dies Buch allein. Es ist von Moses selbst den Priestern übergeben worden, damit es aufbewahrt und an der Seite der Bundeslade hingelegt werde. Die Könige sollten es abschreiben, 3. Buch Mosis 31, 9 u. 26; und viel später ist es durch den Einfluß des Königs Josias wiederum als das Wort Gottes anerkannt worden, 2. Könige 23, 2. Dagegen ist nicht ersichtlich, wann die übrigen Bücher des Alten Testaments zuerst in die kanonischen Bücher mit aufgenommen worden sind. Was den Jesaias und die übrigen Propheten betrifft, die nur prophezeiten, was während oder nach der Gefangenschaft eintreten würde, so konnten deren Schriften zu jener Zeit nicht als prophetisch angesehen werden, da das oben erwähnte Gesetz (5. Buch Mosis 18, 21 u. 22) den Israeliten befahl, nur die als Propheten anzusehen, deren Prophezeiungen durch die Ereignisse bestätigt werden würden. Daher mögen vielleicht die Juden die Schriften der Männer, die sie ermordeten, wenn sie prophezeiten, später als prophetische, d.h. als das Wort Gottes angesehen haben.

13. Nachdem wir gesehen haben, welche Gesetze es unter dem Alten Vertrage gab, und was als Wort Gottes von Anfang an gegolten hat, ist nunmehr zu ermitteln, wer das Recht hatte zu beurteilen, ob die Schriften der Propheten, die später sich erhoben, als Gottes Wort anzusehen waren, d.h. ob die Ereignisse mit den Prophezeiungen übereinstimmten oder nicht, und wer über das Recht verfügte, die bestehenden Gesetze und das geschriebene Wort Gottes auszulegen. Es muß dies nach Unterschied der Zeiten und der Veränderungen des israelitischen Staates untersucht werden.

Offenbar ist bei Lebzeiten Moses' diese Gewalt ausschließlich bei ihm gewesen. Wäre er selbst nicht der Ausleger der Gesetze und Worte gewesen, so wäre dieses Amt entweder jeder Privatperson oder der Versammlung oder Synagoge vieler oder dem Hohenpriester oder andern Propheten zugekommen: Daß dieses Amt aber weder einzelnen Privatpersonen noch einer aus ihnen gebildeten Versammlung zukam, erhellt daraus, daß es nicht zugelassen, ja daß es sogar mit den schwersten Strafen bedroht war,[271] Gott anders als durch Moses' Mund sprechen zu hören. Denn es steht geschrieben, 2. Buch Mosis 19, 24-25: »Die Priester und das Volk sollen die Grenzsteine nicht überschreiten und nicht zu dem Herrn hinaufsteigen, damit er sie nicht etwa töte, und es stieg Moses zum Volke hernieder und erzählte ihnen alles.« Daß übrigens weder einzelne noch eine Versammlung behaupten durften, daß Gott durch sie geredet habe und daß ihnen deshalb das Recht zustehe, Gottes Wort auszulegen, wird bei Gelegenheit des Aufstandes des Korah, Dathan, Abiram und der 250 Fürsten der Versammlung offen und ausdrücklich erklärt. Denn als diese behaupteten, daß Gott ebenso durch sie wie durch Moses spreche, sagten sie, 4. Buch Mosis 16, 3, zum Beweis: »Es genüge euch; denn es ist jede Menge eine von Heiligen, und der Herr ist in ihnen; weshalb erhebt ihr euch also über das Volk des Herrn?« Was aber Gott über diesen Streit entschied, erhellt daraus, daß Korah, Dathan und Abiram lebendig in die Hölle hinabstiegen, und daß ein von dem Herrn ausgegangenes Feuer die 250 Männer verzehrte. Ebend. 33 u. 35.

Zweitens erhellt aus einem ähnlichen Streite zwischen dem Hohenpriester Aaron, seiner Schwester Maria und Moses, daß dieses Recht dem Aaron nicht zugestanden hat. Sie stritten darüber, ob Gott bloß durch Moses gesprochen oder auch durch sie, d.h. ob nur Moses oder auch sie Ausleger von Gottes Wort wären. Sie sagten, 4. Buch Mosis 12, 2: »Weshalb soll der Herr bloß durch Moses gesprochen haben, hat er nicht auch in gleicher Weise durch uns geredet?« Aber Gott schilt sie deshalb und macht einen Unterschied zwischen Moses und den übrigen Propheten. Er sagt, Vers 6-8: »Wenn einer von euch ein Prophet ist, so will ich ihm erscheinen oder im Traum zu ihm sprechen; aber Moses ist kein solcher Knecht von mir usw., denn ich rede von Mund zu Mund mit ihm und er sieht den Herrn nicht in Rätseln und Gestalten: weshalb habt ihr also nicht Ehrfurcht vor ihm gehabt?« usw. Endlich erhellt, daß bei Lebzeiten Mosis die Auslegung des Wortes Gottes nicht irgendwelchen andern Propheten zugekommen ist, schon aus seiner, von mir soeben erwähnten, ausgezeichneten Stellung über alle andern; ebenso aus der natürlichen Vernunft, nach[272] der die Befehle Gottes zu verkünden und auszulegen nur ein und demselben Propheten zukommen kann; und ein anderes Wort Gottes als das durch Moses verkündete gab es damals nicht. Auch erhellt es daraus, daß damals kein anderer Prophet vorhanden war, der dem Volke prophezeit hätte, jene 70 Ältesten ausgenommen, welche durch den Geist Mosis prophezeiten. Und selbst das wollte Josua, damals erster Diener und später Nachfolger des Moses, nicht anerkennen, bis er erfuhr, daß es mit Einwilligung von Moses geschehen sei; auch die Heilige Schrift selbst ergibt dies 4. Buch Mosis 11, 25, wo es heißt: »Es stieg der Herr in einer Wolke herab usw. und nahm von dem Geiste, der in Moses war, und gab ihn den 70 Ältesten.« Als nun gemeldet wurde, daß sie prophezeiten, sprach Josua zu Moses: »Mein Herr, laß es nicht zu!« aber Moses antwortete: »Weshalb ereiferst du dich für mich?« usw. Da somit Moses der alleinige Verkünder von Gottes Wort war und das Recht der Auslegung weder bei Privatpersonen, noch bei der Synagoge, noch bei dem Hohenpriester, noch bei andern Propheten war, so erhellt, daß Moses allein der Erklärer des Wortes Gottes gewesen ist, dem auch die höchste Gewalt in weltlichen Dingen zustand; und der Streit des Korah und der übrigen Verschworenen gegen Moses und Aaron, sowie der Streit Aarons und seiner Schwester gegen Moses ist nicht wegen des Heils ihrer Seele, sondern aus Ehrgeiz und aus dem Wunsche der Herrschaft über das Volk entstanden.

14. Während Josuas Herrschaft war die Auslegung der Gesetze und des Wortes Gottes bei dem Hohenpriester Eleazar, der zugleich unbeschränkter König unter Gott war. Dies erhellt erstens aus dem Vertrage selbst, in dem der israelitische Staat ein priesterliches Königreich genannt wird, oder, wie es 1. Petri 2, 9 heißt, ein königliches Reich der Priester, eine Benennung, die man nur anwenden konnte, wenn nach der Verfassung und dem Vertrage mit dem Volke die königliche Gewalt sich bei dem Hohenpriester befand. Auch ist dies kein Widerspruch mit dem oben Gesagten, wo nicht Aaron, sondern Moses die Herrschaft unter Gott hatte. Denn wenn ein Mensch die Verfassung eines werdenden Staates einrichtet, so ist es notwendig, daß dieser[273] Eine Zeit seines Lebens das von ihm eingerichtete Reich auch leiten muß (mag es eine Monarchie oder Aristokratie oder Demokratie sein); er muß während seines Lebens alle Gewalt haben, die er für spätere Zeit unter andere verteilt. Daß aber der Priester Eleazar nicht bloß das priesterliche Amt, sondern auch die höchste Staatsgewalt besessen hat, ersieht man aus der Berufung Josuas zur Staatsverwaltung. Denn es heißt im 4. Buch Mosis 27, 18-21: »Nimm den Josua, den Sohn des Nun, einen Mann, in dem der Geist Gottes ist, und lege deine Hand auf ihn und stelle ihn vor den Priester Eleazar und vor das ganze Volk, und gib ihm die Anweisungen vor dem Angesicht aller und laß ihn teilnehmen an deiner Ehre, damit ihn die ganze Synagoge der Kinder Israels höre. Der Priester Eleazar soll für ihn Gott befragen, wenn etwas zu tun ist; nach dessen Worten soll er ausziehen und zurückkehren und alle Kinder Israels mit ihm.« Das »Gott befragen, was zu tun ist« bedeutet hier: das Wort Gottes auslegen, und dem Eleazar gebührt das Gebieten im Namen Gottes in allen Dingen; das »ausziehen und zurückkehren nach seinen Worten«, d.h. ihm gehorchen, bezieht sich auf Josua und das ganze Volk. Auch bemerke man, daß die Worte: »teilnehmen an deiner Ehre« deutlich zeigen, daß Josua nicht die gleiche Macht wie Moses gehabt hat. Doch erhellt, daß auch zu Josuas Zeit beides, die höchste bürgerliche Gewalt und das Recht, Gottes Wort auszulegen, in derselben Person vereinigt gewesen ist.

15. Nach Josuas Tod folgt die Zeit der Richter bis zu dem König Saul; an dieser sieht man, daß das Recht zu der von Gott eingerichteten Herrschaft bei dem Hohenpriester geblieben ist. Denn es war eine Herrschaft aus dem priesterlichen Vertrage, d.h. eine durch Priester ausgeübte Herrschaft Gottes. Und das sollte es bleiben, bis diese Staatsverfassung von dem Volke selbst mit Gottes Einwilligung geändert wurde. Dies geschah erst, als Gott dem Verlangen nach einem König nachgab und zu Samuel sagte, 1. Sam. 8, 7: »Höre das Volk in allem, was es zu dir spricht; denn nicht dich, sondern mich haben sie verworfen, damit ich nicht über sie herrschen soll.« Also gebührte nach Gottes eigener Einrichtung die höchste bürgerliche[274] Gewalt mit Recht dem Hohenpriester; tatsächlich war aber diese Gewalt bei den Propheten, denen (als von Gott in außerordentlicher Weise erweckt) die Israeliten, ein nach Propheten begieriges Volk, wegen ihrer Achtung vor der Prophetengabe den Schutz und die Rechtsprechung über sich anvertrauten. Der Grund lag darin, daß nach der Errichtung des priesterlichen Gottesreichs zwar Strafen bestimmt und Richter ernannt waren; allein das Recht, die Bestrafung aufzuerlegen, hing von dem Urteil einzelner ab; und einer ungeordneten Menge und den einzelnen stand es zu, zu strafen oder nicht zu strafen, wie sie gerade durch persönliche Leidenschaften aufgereizt wurden. Deshalb hatte Moses während seiner Herrschaft niemand mit dem Tode bestraft; sondern wenn einer oder mehrere getötet werden sollten, so hetzte er die Menge auf dieselben, indem er auf Grund seiner von Gott empfangenen Macht sagte: Dies spricht der Herr. Dies entsprach der besondern Natur des Gottesreichs. Denn Gott herrscht da wahrhaft, wo man seinen Gesetzen nicht aus Furcht vor den Menschen, sondern aus Furcht vor ihm selbst gehorcht. Wären die Menschen wirklich so, wie sie sein sollten, so wäre dies die beste Staatsform; allein für die Menschen, wie sie einmal sind, bedarf es einer zwingenden Gewalt (worunter ich sowohl das Recht wie die Macht verstehe). Deshalb schrieb Gott gleich von Anfang an durch Moses Gesetze für die spätern Könige vor, 3. Buch Mosis 17, 14-20; und Moses prophezeite dem Volke in seinen letzten Worten (5. Buch Mosis 31, 29): »Ich weiß, daß ihr nach meinem Tode ungerecht handeln und schnell von dem Wege abweichen werdet, den ich euch vorgeschrieben habe« usw. Als nun gemäß dieser Weissagung ein anderes Geschlecht herangewachsen war (Richter 2, 10-11), »welches den Herrn und seine Werke, die er Israel getan, nicht kannte, da sündigten die Kinder Israels im Angesicht Gottes und dienten dem Baal«, d.h. sie verwarfen die Herrschaft Gottes, oder des Priesters, durch den Gott regierte; und als sie später von ihren Feinden besiegt und mit Sklaverei bedrückt wurden, erwarteten sie den Willen Gottes nicht mehr von dem Priester, sondern von den Propheten. Diese richteten tatsächlich in Israel, während nach dem Rechte sie dem[275] Hohenpriester zu gehorchen hatten. Das Priesterregiment war daher nach Moses' und Josuas Tode zwar ohne Kraft, aber doch rechtmäßig. Daß demselben Hohenpriester auch die Auslegung von Gottes Wort gebührte, erhellt daraus, daß Gott, nachdem die Stiftshütte und die Bundeslade eingesegnet worden waren, vom Berge Sinai nicht mehr geredet hat, sondern nur noch in der Bundeshütte von der Gnadenstelle zwischen den Cherubim, der niemand außer dem Hohenpriester sich nahen durfte. Nach dem Verfassungsrecht lag sowohl die höchste Staatsgewalt wie die Auslegung des Wortes Gottes in der Hand des Hohenpriesters; tatsächlich aber lag sie in den Händen der Propheten, die über die Israeliten richteten. Denn als Richter besaßen sie die bürgerliche Macht; als Propheten legten sie Gottes Wort aus. So bestanden bis dahin in jeder Weise diese beiden Gewalten untrennbar beisammen.

16. Als später die Könige herrschten, war unzweifelhaft die weltliche Macht bei diesen; denn das Reich Gottes durch die Priesterschaft war auf Bitten der Israeliten mit Einwilligung Gottes aufgehoben worden; was auch Hieronymus, als er über die Bücher Samuels spricht, mit den Worten sagt: »Samuel zeigt, daß nach dem Tode Elis und der Tötung Sauls das alte Gesetz abgeschafft worden ist.« Ferner beweisen die Eidschwüre der neuen Priesterschaft und der neuen Herrschaft bei Zadoc und David, daß das Regierungsrecht der Könige sich auf die Bewilligung des Volkes stützte. Der Priester war nur so weit berechtigt, als Gottes Befehl ging; das Recht des Königs ging aber so weit wie das Recht jedes einzelnen gegen sich selbst. Denn die Israeliten hatten ihm die unbeschränkte Rechtsprechung und Kriegführung zugestanden, und darin liegt alles Recht, das überhaupt ein Mensch dem andern einräumen kann. Die Israeliten sagten (1. Sam. 8, 20): »Unser König soll über uns richten, und er soll vor uns herziehen und unsere Kriege für uns führen.« Also stand die Rechtsprechung den Königen zu; das Rechtsprechen besteht aber nur in der Anwendung der Gesetze durch ihre Auslegung auf den einzelnen Fall; deshalb gehörte auch die Auslegung der Gesetze vor die Könige. Da nun bis zur Gefangenschaft neben dem Gesetz Mosis kein anderes geschriebenes[276] Wort Gottes als Gesetz anerkannt war, so hatten die Könige auch das Recht zur Auslegung von Gottes Wort. Ja noch mehr, da das Wort Gottes als Gesetz gerechnet werden mußte und den Königen die Auslegung der Gesetze zukam, so würde, falls es neben dem Gesetz Mosis noch ein anderes schriftliches Wort Gottes gegeben hätte, auch dessen Auslegung den Königen gebührt haben. Als das Deuteronomium, welches das ganze Gesetz Mosis enthielt, wiedergefunden worden war, nachdem es lange verloren gewesen, befragten zwar die Priester Gott über dieses Buch, aber das geschah nicht aus eigenem Recht, sondern auf Josuas Befehl, und nicht unmittelbar, sondern vermittels der Prophetin Holda. Daraus erhellt, daß das Recht, Bücher als Gottes Wort zuzulassen, den Priestern nicht zugestanden hat. Jedoch folgt nun nicht etwa, daß die Prophetin dieses Recht hatte, denn andere entschieden darüber, ob ein Prophet als ein wahrer anzuerkennen sei oder nicht. Denn wozu hätte Gott dem ganzen Volke Merkmale und Kennzeichen gegeben, durch die es die wahren Propheten von den falschen unterscheiden konnte, Merkmale, die in dem Prophezeien und in der Übereinstimmung mit der von Moses begründeten Religion bestanden, wenn von diesen Merkmalen kein Gebrauch hätte gemacht werden dürfen? Also war das Recht, Bücher als Gottes Wort zuzulassen, bei den Königen, und deshalb wurde jenes Gesetzbuch infolge Ausspruchs des Königs Josias gebilligt und angenommen, wie aus 2. Könige 22 und 23 erhellt, wo es heißt, daß er die verschiedenen Stände des Reichs, nämlich die Ältesten, die Priester, die Propheten und das Volk, berufen und ihnen das Buch vorgelesen und die Worte des Bündnisses wieder im Gedächtnis erweckt habe, d.h. er habe bewirkt, daß jenes Bündnis für das Mosaische Bündnis, d.h. für das Wort Gottes anerkannt und von den Israeliten von neuem angenommen und bestätigt worden sei. Daher war damals die bürgerliche Gewalt und die Gewalt, das Wort Gottes von dem Worte der Menschen zu unterscheiden und das Wort Gottes auszulegen, lediglich bei den Königen. Die Propheten waren nicht mit eigenem Recht abgesandt, sondern nach Art und mit dem Recht von Herolden oder Predigern, über welche die Zuhörer richteten.[277] Wenn vielleicht die bestraft wurden, die den Propheten nicht deutlich zuhörten, wenn sie Faßliches lehrten, so folgt doch daraus nicht, daß die Könige alles befolgen mußten, was die Propheten im Namen Gottes geboten. Allerdings ist der gute König von Juda, Josias, getötet worden, weil er den Worten Gottes, welche Necho, der König Ägyptens, ihm verkündigte, nicht folgte, d.h. weil er den guten Rat, wenngleich er von dem Feinde zu kommen schien, abwies; allein, so glaube ich, kann man darum doch nicht sagen, Josias sei durch irgendein göttliches oder menschliches Gesetz verpflichtet gewesen, dem Pharao Necho, dem König von Ägypten, zu glauben, weil dieser sagte, daß Gott zu ihm gesprochen habe. Will man aber einwenden, daß die Könige wegen Mangel an Gelehrsamkeit selten zur Auslegung der alten Bücher, die das Wort Gottes enthielten, geeignet waren, und daß es deshalb unbillig sei, daß dieses Geschäft zu ihrem Amte gehörte, so würde dieser Einwand ebenso gegen die Priester und alle Menschen gelten; denn alle können irren. Und wenn auch die Priester nach ihren natürlichen Anlagen und ihrer Übung besser als die andern unterrichtet waren, so sind die Könige doch sehr wohl geeignet, dergleichen Ausleger unter ihrem Vorsitz zu ernennen; und deshalb kann die Auslegung des Wortes Gottes sehr wohl zu dem Recht der Könige gehören, wenn sie selbst es auch nicht auslegen. Wer ihnen dieses Recht abspricht, weil sie es nicht selbst ausüben können, verfährt wie die, welche sagen, daß das Recht Geometrie zu lehren nicht von den Königen abhänge, wenn sie nicht selbst Geometer seien. Wir lesen in der Bibel, daß die Könige für das Volk gebetet, das Volk gesegnet. den Tempel eingeweiht, den Priestern Vorschriften gegeben, Priester vom Amte entfernt und andere eingesetzt haben. Opfer haben sie allerdings nicht dargebracht, weil dies das erbliche Recht Aarons und seiner Nachkommen war; allein das Priestertum war offenbar nicht bloß bei Lebzeiten Mosis, sondern auch in der ganzen Zeit von König Saul bis zur babylonischen Gefangenschaft keine Herrschaft, sondern ein Dienst.

17. Nach der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft wurde durch das erneute und bestätigte Bündnis[278] die priesterliche Herrschaft so wiederhergestellt, wie sie vom Tode Josuas bis zum Eintritt der Könige bestanden hatte; nur wurde nicht ausdrücklich festgesetzt, daß die zurückgekehrten Juden weder dem Esra, unter dessen Leitung sie ihren Staat einrichteten, noch einem andern, sondern nur Gott das Recht der Herrschaft übertrugen. Die Neubildung des Bündnisses scheint damals nur in den einfachen Versprechen und Gelöbnissen der einzelnen bestanden zu haben, daß sie die Gebote des Gesetzbuches befolgen wollten. Indes ergab sich dennoch (vielleicht ohne daß das Volk es wollte) aus dem damals erneuten Vertrage (denn es war derselbe Vertrag wie der am Berg Sinai abgegeschlossene), daß der Staat ein priesterliches Königreich wurde, d.h. daß die höchste bürgerliche und geistliche Gewalt in den Priestern vereinigt war. Nun wurde allerdings durch den Ehrgeiz der Priester, welche um die Herrschaft stritten, und durch die Einmischung fremder Fürsten der Staat bis zu den Zeiten unsers Erlösers Jesu Christi so zerrüttet, daß man aus den Geschichtsschreibungen jener Zeiten nicht ersehen kann, in wessen Händen sich die Staatsgewalt befunden hat; aber es ist offenbar, daß auch in diesen Zeiten das Recht zur Auslegung von Gottes Wort von der höchsten bürgerlichen Gewalt nicht getrennt gewesen ist.

18. Hieraus ist leicht zu ersehen, wie die Juden während der ganzen Zeit von Abraham bis zu Christus in bezug auf die Gebote ihrer Fürsten sich zu verhalten hatten. Denn so wie in den rein menschlichen Reichen man der niedern Obrigkeit in allem gehorchen muß, ausgenommen wenn ihre Befehle in sich eine Majestätsverletzung oder einen Hochverrat enthalten, so mußten auch im Reiche Gottes die Juden ihren Fürsten Abraham, Isaak, Jakob, Moses, den Priestern, den Königen, jedem zu seiner Zeit in allem Gehorsam leisten, solange ihre Befehle nicht einen Verrat gegen die Majestät Gottes enthielten. Das war aber: 1. die Ableugnung der Vorsehung Gottes; denn damit leugnete man, daß Gott von Natur der König sei; 2. der Götzendienst, d.h. die Anbetung nicht anderer (denn es gibt nur einen Gott), sondern fremder Götter, d.h. also, die Anbetung zwar eines Gottes, aber unter andern Namen, Eigenschaften und Gebräuchen, als von Abraham und[279] Moses eingeführt worden waren. Denn darin lag eine Leugnung, daß der Gott Abrahams ihr König vermöge des mit Abraham und ihnen selbst eingegangenen Vertrages sei. In allen andern Dingen mußte dagegen Gehorsam geleistet werden. Und wenn ein König oder Priester, der die höchste Gewalt innehatte, ihnen etwas gegen die Gesetze gebot, so beging er damit eine Sünde, und nicht seine Untertanen; denn sie waren verpflichtet, den Befehlen der Vorgesetzten zu gehorchen, nicht, sie zu erörtern.[280]

20

In Kap. 15. Abschn. 14 habe ich die Unvernünftigkeit dieser Gottesverehrung dargelegt. Geschieht indes dieselbe auf Befehl eines Staats, dem das geschriebene Wort Gottes weder bekannt noch angenommen ist, so ist eine solche Gottesverehrung nicht gegen die Vernunft, wie ich Kap. 15, Abschn. 18 gezeigt habe. Wo aber Gott infolge eines Vertrages herrscht, in welchem ausdrücklich ausbedungen worden ist, daß diese Verehrung nicht stattfinden solle (wie in dem mit Abraham geschlossenen Vertrag), da bleibt sie ein Unrecht, mag der Staat sie gebieten oder nicht.

Quelle:
Thomas Hobbes: Grundzüge der Philosophie. Zweiter und dritter Teil: Lehre vom Menschen und Bürger. Leipzig 1918, S. 262-281.
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