5. Kapitel
Von den Ursachen und der Entstehung des Staates

[129] 1. Es ist durch sich offenbar, daß die Handlungen der Menschen vom Willen, und der Wille von Hoffnung und Furcht ausgeht, dergestalt, daß, wenn sich ein größeres Gut oder ein geringeres Übel eher von der Verletzung der Gesetze als von ihrer Beobachtung erwarten läßt, sie mit Willen verletzt werden. Deshalb beruht die Hoffnung eines jeden in bezug auf seine Sicherheit und Selbsterhaltung darauf, daß er durch seine eigene Macht oder Kraft seinen Nachbarn offen oder mit List zuvorkommen kann. Daraus folgt, daß die bloße Erkenntnis der natürlichen Gesetze doch nicht jedem sofort die Sicherheit ihrer Befolgung gibt, und daraus folgt dann, daß, solange man keine Sicherheit gegen einen Überfall der andern hat, jedem das gleiche ursprüngliche Recht verbleibt, sich auf alle Weise, wie er kann oder will, zu schützen, d.h. ein Recht auf alles, oder das Recht zum Kriege. Und es genügt zur Erfüllung des natürlichen Gesetzes, daß jeder in seiner Gesinnung zur Einhaltung des Friedens bereit sei, sobald dieser zu erlangen ist.

2. Es ist ein abgedroschenes Sprichwort, daß unter den Waffen die Gesetze schweigen; aber es ist auch ein sehr wahres, nicht bloß in bezug auf die bürgerlichen, sondern auch in bezug auf die natürlichen Gesetze, wenn man sich bei ihnen nicht bloß mit der Absicht begnügt, sondern auch die Ausübung fordert (Kap. 3, Abschn. 27),[129] und wenn man unter Krieg den Krieg aller gegen alle versteht, wie er im reinen Naturzustande besteht, während in dem Kriege eines Volks gegen ein anderes ein gewisses Maß eingehalten werden muß. So gab es in alten Zeiten eine Lebensweise und eine Art Unterhaltserwerb, der lêstrikê, vom Raube leben, hieß. Dies war (unter den damaligen Verhältnissen) weder gegen das natürliche Gesetz, noch ohne Ruhm für die, welche es mit Tapferkeit und ohne Grausamkeit betrieben. Diese Räuber pflegten alles zu rauben, nur an dem Leben sich nicht zu vergreifen, auch die pflügenden Stiere sowie alles Ackergerät zu verschonen. Indes ließen sie davon nicht ab, weil sie durch ein natürliches Gesetz sich verpflichtet fühlten, sondern nur im Interesse ihrer Ehre, um nicht durch übertriebene Grausamkeit den Verdacht der Furcht zu erregen.

3. Wenn somit zur Verwirklichung des Friedens die Befolgung der natürlichen Gesetze, und zu dieser Befolgung eine Sicherheit nötig ist, so fragt es sich, was eine solche Sicherheit gewähren könne. Hier erscheint nun kein anderes Mittel denkbar, als daß jeder sich die nötige Hilfe verschafft, damit der Überfall des einen über den andern so gefährlich werde, daß alle es für sicherer halten, die Gewalt zu unterlassen statt anzuwenden. Nun erhellt aber, daß das Übereinkommen von zweien oder dreien eine solche Sicherheit nicht gewähren kann; denn der andere braucht nur einen oder ein paar Menschen mehr zu nehmen, um zweifellos den Sieg zu gewinnen und jedenfalls den Mut zum Angriff sich zu stärken. Um also die Sicherheit, die man wünscht, zu erlangen, ist es nötig, daß die Zahl der zu gemeinsamem Beistand sich Verbindenden so groß sei, daß eine geringe Zahl Menschen mehr auf seiten des Feindes für die Erlangung des Sieges von keiner erheblichen Bedeutung für ihn ist.

4. Indes, wie groß auch immer die Zahl derer sei, welche sich zu ihrer Selbstverteidigung verbinden: wenn sie sich nicht einig sind über die beste Art, diese auszuführen, sondern wenn jeder nach seiner Weise von seinen Kräften Gebrauch macht, so wird nichts erreicht; denn bei der Verschiedenheit der Ansichten wird der eine ein Hindernis für den andern sein; oder wenn auch für eine[130] Handlung in der Hoffnung auf Sieg, Beute oder Rache die Einigkeit erreicht worden ist, so wird doch später die Verschiedenheit der Ansichten und Ratschläge oder Nebenbuhlerschaft und Neid, mit dem von Natur die Menschen sich bekämpfen, sie wieder so auseinanderbringen und spalten, daß sie sich einander weder gegenseitig helfen noch Frieden wünschen werden, es sei denn, daß eine gemeinsame Furcht sie dazu zwingt. Hieraus erhellt, daß die Vereinigung mehrerer (die nur darin besteht, wie ich es in den vorhergehenden Abschnitten gezeigt habe, daß alle ihr Handeln auf einen Zweck und das gemeinsame Gute hinwenden), d.h. daß eine Gesellschaft nur zur gegenseitigen Hilfeleistung nicht jene Sicherheit gewahrt, die wir für die Ausübung der obengenannten natürlichen Gesetze suchen; es muß noch etwas weiteres geschehen, damit die, welche einmal sich zum Frieden und zu gegenseitiger Hilfe um des gemeinen Besten willen verbunden haben, durch Furcht verhindert werden, sich später, wenn etwa ihr Privatinteresse nicht mit dem allgemeinen übereinstimmt, wieder zu trennen.

5. Aristoteles rechnet zu den Geschöpfen, welche er politisch nennt, nicht bloß die Menschen, sondern noch viele andere, wie die Ameisen, die Bienen usw., welche zwar der Vernunft entbehren, vermöge derer sie Verträge schließen und einer Regierung sich unterwerfen könnten, aber doch, indem sie in allem übereinstimmen, d.h. dasselbe tun oder unterlassen, ihre Handlungen so auf ein gemeinsames Ziel richten, daß ihre Vereinigung keinem Aufruhr ausgesetzt ist. Indes sind ihre Vereinigungen keine Staaten, und deshalb können diese Tiere keine politischen genannt werden; denn ihre Regierung beruht nur auf Übereinstimmung vieler auf einen Gegenstand gerichteter Willen, aber es herrscht bei ihnen nicht (wie es im Staate nötig ist) ein Wille. Es ist richtig, daß bei diesen in bloßen sinnlichen Empfindungen und Begehrungen lebenden Geschöpfen die Übereinstimmung der Neigungen so beständig ist, daß sie nichts weiter als ihr rein natürliches Begehren brauchen, um diese Übereinstimmung und damit den Frieden sich zu erhalten. Allein bei den Menschen verhält es sich anders. Unter diesen besteht erstens ein[131] Wettstreit um Ehre und Würden, der bei den Tieren fehlt; deshalb herrscht bei den Menschen Haß und Neid und der daraus entstehende Aufruhr und Krieg, der bei jenen nicht ist. Zweitens sind die natürlichen Begierden der Bienen und ähnlicher Geschöpfe gleichartig und treiben zu dem gemeinsamen Besten, welches bei ihnen von dem Nutzen des einzelnen nicht verschieden ist. Dem Menschen gilt aber beinahe nichts als ein Gut, wenn der Besitzer nicht dadurch, daß die andern es nicht besitzen, etwas im voraus und einen Vorzug hat. Drittens bemerken die unvernünftigen Tiere keinen Fehler in der Verwaltung ihres Gemeinwesens oder glauben wenigstens, keinen solchen zu bemerken; aber unter der Menge von Menschen sind viele, die meinen, klüger als die andern zu sein, und deshalb nach Neuerungen verlangen. Die mancherlei Neuerer betreiben dies auf verschiedenen Wegen, und daraus entsteht Spaltung und Bürgerkrieg. Viertens können die unvernünftigen Tiere zwar durch ihre Stimme einander sich ihre Begierden kenntlich machen, aber es geht ihnen die Kunst der Sprache ab, derer man bedarf, wenn man die Geister zu Unruhen verleiten will; denn nur durch die Sprache kann dem Menschen ein Gutes besser und ein Schlechtes schlechter dargestellt werden, als es wirklich ist. Die Zunge des Menschen ist gleichsam die Trompete des Krieges und Aufruhrs, und von Perikles erzählt man, daß er durch seine Volksreden gedonnert, Blitze geschleudert und ganz Griechenland in Verwirrung gebracht habe. Fünftens unterscheiden die Tiere nicht zwischen Unrecht und Schaden; deshalb beschuldigen sie die Genossen nicht des Unrechts, wenn es ihnen selbst gut geht. Bei den Menschen sind aber dem Staate diejenigen am beschwerlichsten, welche am wenigsten zu arbeiten brauchen, denn sie pflegen nur erst dann über öffentliche Ämter zu streiten, wenn sie in dem Kampfe gegen Hunger und Kälte Sieger geblieben sind. Endlich ist die Übereinstimmung jener vernunftlosen Tiere eine natürliche; die der Menschen beruht aber nur auf Vertrag, d.h. sie ist eine künstliche. Es kann deshalb nicht auffallen, wenn die Menschen zu dem friedlichen Leben noch etwas anderes brauchen. Deshalb genügt die bloße Übereinstimmung oder der bloße Vertrag ohne Begründung[132] einer gemeinsamen Macht, welche die einzelnen durch Furcht vor Strafe leitet, nicht für die Sicherheit, welche zur Übung der natürlichen Gerechtigkeit nötig ist.

6. Wenn sonach die Übereinstimmung des Willens vieler zu demselben Zwecke nicht genügt, um den Frieden zu erhalten und eine dauernde Verteidigung zu ermöglichen, so muß für die zum Frieden und zur Selbstverteidigung notwendigen Mittel ein Wille im allen bestehen. Dies ist aber nur möglich, wenn die einzelnen ihren Willen dem Willen eines einzelnen, d.h. eines Menschen oder einer Versammlung so unterordnen, daß dieser Wille für den Willen aller einzelnen gilt, soweit er etwas über das zum gemeinsamen Frieden Nötige bestimmt. Eine Versammlung nenne ich einen Zusammentritt mehrerer Menschen, welche über das, was zu dem gemeinen Besten zu tun oder zu unterlassen ist, beratschlagen.

7. Diese Unterwerfung des Willens aller unter den Willen eines Menschen oder einer Versammlung erfolgt dann, wenn jeder sich jedem der übrigen durch Vertrag verpflichtet, dem Willen dieses einen, dem er sich unterworfen hat, keinen Widerstand zu leisten; d.h. er verweigert jenem nicht den Gebrauch seiner Mittel und Kräfte gegen irgendwelche andere (wobei er sich aber natürlich ein Recht der Selbstverteidigung gegen Gewalt vorbehalten hat). Dies nennt man Union oder Vereinigung. Als Wille der Versammlung gilt der Wille der Mehrzahl der Personen, aus denen sie besteht.

8. Obgleich der Wille nicht selbst freiwillig, sondern nur das Prinzip der freiwilligen Handlungen ist (denn man will nicht wollen, sondern handeln) und daher keineswegs unter Übertragung und Verträge fällt, so überträgt doch der, welcher seinen Willen dem eines andern unterwirft, diesem andern das Recht auf seine Kraft und seine Fähigkeiten. Wenn daher die übrigen dasselbe tun, so erlangt der, dem man sich unterwirft, eine so große Macht, daß er durch den Schrecken derselben die Willen der einzelnen zur Einheit und Einigkeit zusammenhalten kann.

9. Die so gebildete Vereinigung ist der Staat oder die bürgerliche Gesellschaft oder auch die bürgerliche Person. Denn da alle hier nur einen Willen haben, so gelten sie[133] für eine Person, die durch diese Einheit sich erkennbar macht und sich von allen einzelnen Menschen unterscheidet, die ihre besondern Rechte und ihr besonderes Vermögen hat. Deshalb kann (mit Ausnahme desjenigen, dessen Wille für den Willen aller gilt) weder irgendein Bürger, noch können alle zusammen als der Staat gelten. Der Staat ist daher als eine Person zu definieren, deren Wille vermöge des Vertrages mehrerer Menschen als der Wille aller gilt, und der daher die Kräfte und Vermögen der einzelnen für den gemeinsamen Frieden und Schutz verwenden kann.

10. Wenn auch der ganze Staat eine Rechtsperson ist, so ist doch nicht umgekehrt jede Rechtsperson ein Staat; denn mit Erlaubnis des Staates können mehrere Bürger sich zu einer Person verbinden, um gewisse Geschäfte zu betreiben. Diese werden damit zu Rechtspersonen, wie z.B. die Zünfte der Kaufleute und viele andere Vereine. Allein sie sind keine Staaten, weil die Mitglieder sich nicht einfach und in allen Dingen dem Willen des Vereins unterworfen haben, sondern nur in einzelnen, vom Staate bestimmten. Deshalb kann der einzelne berechtigterweise gegen die Körperschaft der Zunft einen Prozeß führen, was der Bürger gegen den Staat auf keinen Fall darf. Solche Gesellschaften sind also Rechtspersonen, welche dem Staat untergeordnet bleiben.

11. In jedem Staate gilt der Mensch oder die Versammlung, deren Willen die einzelnen ihren Willen (wie ich dargelegt habe) unterworfen haben, als der Inhaber der höchsten Gewalt oder der höchsten Herrschaft oder der Souveränität. Diese Macht und dieses Recht zu herrschen besteht darin, daß jeder einzelne Bürger all seine Kraft und Macht auf jenen Menschen oder jene Versammlung übertragen hat. Dies kann, weil niemand seine Kraft in wörtlichem Sinn auf andere übertragen kann, nur dadurch geschehen, daß jeder sein Recht des Widerstandes aufgegeben hat. Der einzelne Bürger sowie jede andere untergeordnete Rechtsperson heißt Untertan des Inhabers der Staatsgewalt.

12. Ich habe bereits früher genügend dargelegt, wie und in welchem Maße viele natürliche Personen ihrer Selbsterhaltung wegen und aus gegenseitiger Furcht sich zu[134] einer Rechtsperson, Staat genannt, verbunden haben. Übrigens geschieht diese Unterwerfung unter einen andern aus Furcht entweder unter den, welchen sie fürchten, oder unter einen andern, von dem sie Schutz erhoffen. In der ersten Weise geschieht es von denen, welche im Kriege besiegt wurden, um dem Tode zu entgehen; in der letzten Weise von denen, die noch nicht besiegt sind, damit sie nicht besiegt werden. Die erste Weise nimmt ihren Ausgang von der natürlichen Macht und kann der natürliche Ursprung des Staates genannt werden. Die andere beruht auf der Beratung und dem Beschlusse der sich Verbindenden und dies ist der Ursprung des Staates durch Einrichtung. Daher gibt es zwei Arten von Staaten: die eine ist die natürliche, wie der väterliche oder despotische Staat; die andere ist die institutive, die auch die politische heißen kann. Bei der ersten Art erwirbt der Herr die Bürger durch seinen Willen, bei der andern setzen die Bürger durch ihren Willen einen Herrn über sich, der die höchste Gewalt hat, sei es ein einzelner oder eine Versammlung. Ich werde zunächst über einen politischen oder vertragsmäßigen Staat und dann über einen natürlichen sprechen.[135]

Quelle:
Thomas Hobbes: Grundzüge der Philosophie. Zweiter und dritter Teil: Lehre vom Menschen und Bürger. Leipzig 1918, S. 129-136.
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