1. Kapitel
Vom Ursprung des Menschengeschlechts.
Von Leben und Tod

[1] 1. Über den Ursprung des Menschengeschlechts gab es bei den ältesten Philosophen zwei besonders verbreitete Ansichten, wie der antike Geschichtsschreiber Diodor aus Sizilien bezeugt. Die einen erklärten die Welt für ewig und behaupteten infolgedessen auch, daß das Menschengeschlecht von Ewigkeit an bestanden habe. Die anderen waren der Meinung, daß die Welt zu einem bestimmten Zeitpunkte entstanden sei. Nach ihnen hätten von Anbeginn der Dinge Himmel und Erde, da beider Stoff vermischt war, gleichartig ausgesehen, später hätten sich aber die Stoffe voneinander geschieden, und so hätten unsere sichtbare Welt und die Luft eine beständige Bewegung erhalten; und zwar hätten sich einige Elemente in die Höhe erhoben und Sterne und Gestirne gebildet, die sich, von der Bewegung des Weltalls und der Luft ergriffen, zugleich mit der Welt und der Luft im Kreise bewegen; andere hätten sich gesenkt und eine dünne und schlammige Masse gebildet, die sich beständig um ihre eigene Achse dreht. In dieser Masse hätten sich die Bestandteile voneinander abgesondert und es sei aus den feuchten das Meer geworden, aus den festeren die Erde; diese sei anfangs ziemlich weich gewesen, dann aber durch die Sonnenwärme fester geworden. Infolge dieser Weichheit der Erde hätten sich an Stellen, die der Sonne mehr ausgesetzt waren, in sumpfigen Gegenden Anschwellungen und eine Art Bläschen[1] gebildet, die mit Häutchen überzogen waren. Diese verbrannten dann und zerrissen, und alle Lebewesen, auch die Menschen, traten aus ihnen heraus. Diese Vorstellungen sind denen, die im I. Kapitel der Genesis überliefert sind, zwar verwandt, aber doch nicht gleich. Denn nach der Darstellung der Genesis haben sich zwar auch die Elemente voneinander geschieden und die gleichartigen an verschiedene Orte verteilt; aber der Geist Gottes, der über der unermeßlichen und noch ungeschiedenen Welt schwebte, soll sie dazu getrieben haben. Auch dort hat die Erde alle Arten Lebewesen hervorgebracht, aber nicht von sich aus, sondern durch die Kraft des Wortes Gottes, und dann auch nicht den Menschen, der später als die übrigen Lebewesen nach dem Bilde Gottes erschaffen worden ist. Indessen haben, wie mir scheint, die Vertreter jener Anschauung so viel erkannt, als sie ohne göttliche Offenbarung erkennen konnten; denn die Entstehung und die Auflösung des Weltalls ist niemandem bekannt als seinem Schöpfer. Daher glauben wir, daß die Erschaffung der Welt sich so vollzogen habe, wie wir es im heiligen Gesetze von Moses gelernt haben.

2. Die Ernährung des Menschen ist, soweit sie durch Speisen täglich vollzogen wird, den Sinnen im allgemeinen wahrnehmbar. Die Speise wird nämlich durch eine Bewegung, das Hinabschlucken, in den Magen befördert. Der Magen wirft sie dann mit einer ihm eigenen Bewegung hin und her, so daß sie vermischt und erweicht wird, und stößt sie in die Gedärme. Die Gedärme erweichen sie vollends und geben sie weiter und treiben ihren dünnsten Bestandteil, d.h. den Saft, durch eine peristaltische Bewegung in die Lymphgefäße; die Lymphgefäße geben ihn in die Subklaviarvenen weiter, diese in die Hohlvene, die Hohlvene in das Herz, wo er sich mit Blut mischt, und das Herz in die Arterien. Seinen zur Ernährung geeigneten Teil tragen die Hauptschlagadern ins Gehirn; von hier wird er gesiebt durch die Nerven geleitet und wird in unzählige feine Fädchen gespalten Fleisch. Inzwischen färbt das Blut, das durch die Aorta und ihre Verzweigungen in die Muskeln gebracht ist, das bereits gebildete Fleischrot.[2]

Außerdem wird das Blut durch dieselbe Bewegung der Arterien, durch die es in die Muskeln gebracht wird, nachdem die Muskeln ausreichend versorgt sind, in die Kapillaradern getrieben; und damit es nicht infolge seines Gewichtes sinkt, wird es durch Klappen gehalten, es dringt zur Hohlvene vor und kehrt von dort wiederum zum Herzen zurück und dann, nachdem es neuen Saft aufgenommen hat, im Kreislauf durch die Arterien zu den Muskeln. Alle diese Vorgänge, mit Ausnahme dessen, was über die Entstehung des Fleisches durch die Nerven gesagt ist, – dieser Gegenstand bedarf noch der weiteren Untersuchung – sind experimentell festgestellt worden.

Solange das Blut in der beschriebenen Weise umläuft, solange lebt der Mensch. Solange aber das Herz seine zusammenziehende und ausdehnende Bewegung beibehält, solange läuft das Blut um. Woher hat aber das Herz diese Bewegung? Von irgendeiner Bewegung im Blute, oder hat das Blut seine Bewegung vom Herzen? Bekanntlich hat das Kind, solange es im Mutterleib ist, die Bewegung des Herzens von der Bewegung des mütterlichen Blutes und sein Leben von dem Leben der Mutter, mit der es verbunden ist. Es ist auch offenbar, daß es, sobald es den Mutterleib verlassen und einmal Luft eingeatmet hat, fernerhin ohne Luft nicht leben kann. Folglich hängt das Leben, d.h. die Bewegung des Herzens, von der Luft ab, und demnach ist die Luft oder irgend etwas, was mit der Luft eingesogen wird, die Ursache der Bewegung des Herzens. Was es nun auch immer in der Luft sein mag, wodurch das Herz bewegt wird, unter allen Umständen muß es zuerst das Blut bewegen. Denn die eingeatmete Luft geht durch die Luftröhre in das Lungengewebe und kann nicht anders in das Herz gelangen, als daß sie zuvor in die Arteria venosa eintritt und so durch einen zweiten Blutlauf in das Herz gebracht wird. Und so bewirkt das, was in der Luft vorhanden ist und seine Bewegung dem Blute mitteilt, die Diastole des Herzens. Daraufhin ergießt das Herz das Blut durch die Arterien, und diese Bewegung heißt Systole.

Um nun zu erkennen, was jenes Etwas in der Luft ist, das durch seine Bewegung das Blut in den Adern bewegen[3] kann, müssen wir erwägen, ob man in jeder Luft in gleicher Weise leben kann. Das verhält sich nun bekanntlich nicht so. Wenn die Luft reiner Äther wäre, so wäre sie homogen, dann würde man in jeder Luft in gleicher Weise leben; vielmehr, man würde überhaupt nicht leben, da die reine Luft nicht imstande ist, das Blut so zu bewegen, daß daraus Systole und Diastole entstünde. Außerdem ist durch Versuche festgestellt, daß ein Mensch sich sechs Stunden auf dem Meeresgrunde aufhalten kann, wenn er Luft, in eine Blase eingepreßt, mitnimmt und er diese sparsam einatmet. Das wäre unmöglich, wenn die eingeführte Luft ganz rein wäre. Denn die einmal ein- und ausgeatmete Luft ist, mag sie auch noch so sehr abgekühlt sein, für das Leben ohne Nutzen. Es befinden sich also in der Luft gewisse wegen ihrer Kleinheit unsichtbare Teilchen, die jene Bewegung des Blutes in den Adern und dadurch die Bewegung des Herzens bewirken. Offenbar befindet sich in der Luft, wie im Meere das Salz, irgendein dem Salz entsprechender Stoff, etwa eine Art Laugensalz, der durch das Einatmen in das Blut aufgenommen wird und es bewegt und in Gärung versetzt, Venen und Herz ausdehnt und durch die Systole vermittelst der Arterien sich auf den ganzen menschlichen Körper verteilt. Die Bewegung, welche diese Teilchen haben müssen, kann keine andere sein als die, welche wir (Kap. 21 des I. Teiles: Über den Körper) die »einfache Bewegung« genannt und als die Ursache jeder Gärung (Fermentation) nachgewiesen haben. Und das darf niemandem wunderbar erscheinen, da wir sehen, daß die Bewegung des Blutes und des Herzens aufhört, das heißt, daß häufig infolge des Einatmens ungesunder Luft, nämlich infolge gewisser Teilchen, die, dem Leben schädlich, in der Luft vorhanden sind, sich Krankheiten und Tod einstellen, und andererseits durch andere Teilchen Leben und Gesundheit erhalten werden. Denn ebenso wie, nicht durch die reine Luft oder den Äther, sondern durch Teilchen, die sich in ihr bewegen und eine der Lebensbewegung schädliche Bewegung besitzen, epidemische Krankheiten entstehen, so werden durch Teile der Erde, die eine unserer Natur gemäße Beschaffenheit haben, Leben und die notwendige Bewegung des Blutes erhalten.[4]

3. Die Ursachen des Todes, d.h. der Hemmung des Blutumlaufes, sind, abgesehen von einer von außen wirkenden Gewalt, verschiedener Art. So zunächst Verstopfungen der Gefäße, in denen das Blut umläuft. Es kann nämlich der Fall eintreten, daß infolge einer Erstarrung der Muskeln der Weg des Blutes verbaut wird. Eine Erstarrung der Muskeln aber tritt dann ein, wenn eine klebrige oder schleimige Flüssigkeit in den Muskeln selbst fest wird. Infolgedessen geht nicht nur das Arterienblut schwer durch die Kapillararterien, sondern wird auch nicht ohne Schwierigkeit in die Kapillarvenen aufgenommen. Die Folge hiervon sind Fieber, und wenn die Herzbewegung nicht stärker wird, der Tod. Ferner wird, wenn ein eiteriger Stoff mit dem Blute vermischt in die Adern fließt, das Ausstoßen des Blutes durch die Arterien in die Muskeln dem Herzen dieselbe Beschwerde, nämlich Fieber, verursachen, und wenn das Herz schwächer ist, den Tod, wenn es stärker ist, Geschwüre im Fleisch, da der eiterige Stoff durch die Muskeln ausgestoßen wird. Ein solcher Stoff aber entsteht, wenn die Venen wund geworden sind. Die Ursache davon können die Teilchen sein, die durch das Einatmen eingesogen werden und dadurch, daß sie ins Blut eintreten, die Gefäße zerfressen oder das Blut selbst gerinnen machen, wie bei pestartigen Krankheiten. Ursache können auch Teilchen sein, die mit Speise und Trank aufgenommen werden. Diese machen die Venen eitrig, wenn sie mit dem Saft eintreten. Ursache kann ferner der Biß einer Schlange oder eines tollen Hundes sein; wenn durch einen solchen irgendeine Vene verletzt ist oder sonst irgendwie Gift in das Blut eingedrungen ist, so bildet sich in den Venen, die das vergiftete Blut aufnehmen, eine Vereiterung. Kurz, wo immer ein Zugang in das Innere der Venen offen steht, da kann die Vereiterung der Gefäße ihren Ausgang nehmen; so dringt z.B. bei der Syphilis das Gift durch die Mündung der Harnröhre ein und gelangt durch die Harnröhre, die Nieren, die Nierenvenen und die Hohlvene mit dem Blute zum Herzen und verbreitet sich von dort durch die Arterien durch den ganzen Körper. In derselben Weise führt Hemmung des Stoffes, der durch die Nerven geht, Krankheiten und Tod herbei.[5]

Noch viele andere Zufälle bringen dem Menschen Krankheiten und Tod. Allen aber ist gemeinsam, daß sie das Blut zum Stillstand bringen oder hemmen oder ausschöpfen oder auf irgendeine Weise seinen Umlauf hindern. Diese Fälle ausführlich zu behandeln, ist Aufgabe der Mediziner.

4. Die Entstehung des Menschen vollzieht sich ungefähr ebenso wie die der Pflanzen. Der Stoff der Pflanzen ist die Erde selbst; diese wird durch die Wärme geweckt und dann durch die Eigenbewegung des Samens zu der ihm zugehörigen Pflanzenart geformt. Entsprechend ist bei der Entstehung des Menschen der Stoff des Fötus das Mutterblut, das durch den zeugungsfähigen Saft beider Eltern bewegt und zu menschlicher Gestalt geformt wird. Durch die Bewegung nämlich beim Zeugungsakt tritt die Gärung ein, daraufhin die Ausdehnung der Gefäße; die zeugende Flüssigkeit bricht hervor und dringt in den Mutterboden ein, wo er durch die ihm eigene Bewegung das allmählich herabsteigende Blut zum Menschen formt.

Ich könnte diese Vorgänge noch eingehender erörtern; indessen meine Absicht ist, nicht so sehr den Fähigkeiten des Körpers als denen der Seele auf den Grund zu kommen. Darum gehe ich jetzt zu den sinnlichen Wahrnehmungen über und begnüge mich damit, diese Fragen angedeutet zu haben, indem ich ihre ausführlichere Behandlung anderen überlasse. Wenn diese nach hinlänglicher Beobachtung der Erzeugungs- und Ernährungsorgane nicht einsehen, daß diese von irgendeinem ordnenden Verstande hergestellt und zu ihren Verrichtungen abgezweckt sind, so wird man ihnen wahrlich selbst den Verstand absprechen müssen.[6]

Quelle:
Thomas Hobbes: Grundzüge der Philosophie. Zweiter und dritter Teil: Lehre vom Menschen und Bürger. Leipzig 1918, S. 1-7.
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