12. Kapitel
Von den Affekten oder den Störungen des Geistes

[33] 1. Affekte oder Störungen des Geistes sind Arten des Begehrens oder Meidens, die sich nach der Verschiedenheit der Objekte, die wir begehren oder meiden, und nach den Umständen unterscheiden. Störungen heißen sie, weil sie zumeist die ruhige und richtige Überlegung aufheben, indem sie, entgegen unserem wahren Besten, ein Gut uns vorgaukeln, das sich gewöhnlich, nach allseitiger und ruhiger Überlegung, als Übel erweist. Aus der Verbindung von Geist und Körper folgt, daß die Begier sofort zur Tat schreitet, Besonnenheit und Vorbedacht dagegen der Vernunft eigen sind. Nun kann aber unser wahres Beste nur durch weitblickende Vorsicht gefunden werden; seine Bestimmung ist also Sache der Vernunft; die Begier stürzt sich auf jedes sich gerade darbietende Gut, ohne das Schlechte, welches ihm notwendigerweise anhaftet, vorher zu erwägen. Sie stört also und hindert die Tätigkeit der Vernunft; darum nennt man sie zutreffend »Störung«.

Es bestehen nun die Affekte in verschiedenen Bewegungen des Blutes und der Lebensgeister, indem diese sich in verschiedener Weise bald ausbreiten, bald zu ihrem Quell zurückfließen; Ursachen dieser Bewegungen sind die Vorstellungen von Gutem und Schlechtem, die durch die Objekte im Geiste hervorgerufen werden.

2. Die Vorstellung eines gegenwärtigen Gutes ohne Schmälerung durch ein darauf folgendes Übel – also der Genuß der Güte selbst – ist der »Freude« genannte Affekt. Die Vorstellung eines lastenden Übels ohne die Vorstellung eines kompensierenden Gutes ist der »Abscheu«[33] genannte Affekt; und jedes Übel, das uns drückt, heißt »abscheulich«. Übel, die wir weder überwinden noch vermeiden können, verabscheuen wir.

3. Wenn wir aber zugleich mit dem Übel eine solche Änderung desselben vorstellen, daß wir ihm schließlich entgehen, so entsteht der Affekt, den wir als »Hoffnung« bezeichnen. Entsprechend reden wir von »Furcht«, wenn wir, im Besitze eines Gutes, irgendeine Weise vorstellen, auf die es verloren werden könnte, oder wenn wir daran denken, daß das Gut irgendein Übel mit sich ziehe. Es ist klar, daß Hoffnung und Furcht so schnell aufeinander folgen, daß noch im kleinsten Zeitaugenblick ein Wechsel stattfinden kann. Eigentliche Störungen sind Furcht und Hoffnung, wenn beide in dem kleinsten Zeitteil enthalten sind, und sie werden nur je nach dem vorherrschenden Affekt schlechtweg Hoffnung oder Furcht genannt.

4. Wenn beim Vorhandensein oder Eintreten eines Übels plötzlich die Hoffnung entsteht, jenes Übel könne durch Bekämpfung oder Widerstand überwunden werden, so entsteht die Leidenschaft, die man »Zorn« nennt. Und zwar entsteht sie am häufigsten, wenn die Empfindung aufkommt, daß man verachtet wird. Der Zornige will so viel er kann oder zu können hofft, den Schein zerstören, als dürfe er, gar mit Recht, gering behandelt werden; so wird er dem Verächter so viel Übles zufügen, als ihm hinreichend erscheinen wird, damit jener sein Unrecht bereut. Indessen ist nicht immer mit dem Zorn jene Annahme der Verachtung verbunden. Denn wenn einer irgendeinem Ziele, das er sich gesteckt hat, zustrebt, so rufen alle Dinge, die ihn im Fortschreiten hindern, auch wenn sie nicht beseelt sind und also auch nicht verachten können, sobald die Hoffnung auftaucht, daß sich diese Widerstände beseitigen ließen, seine Kraft hervor, sie erregen den leidenschaftlichen Zorn, sie zu entfernen.

Dem Zorne verwandt ist der Affekt, den die Griechen mênis nennen, d.h. die Begierde nach Rache, der beständige und dauernde Wunsch, jemand Übles zu tun in der Absicht, ihn ein angebliches Unrecht büßen zu lassen, auch damit andere davon abgeschreckt werden, ähnliches zu tun. Von dieser Art war der Zorn des Achilles gegen die Griechen[34] wegen des Unrechts, das ihm Agamemnon angetan hatte. Diese Art von Zorn unterscheidet sich aber von jener anderen dadurch, daß sie nicht wie jene plötzlich entsteht und vergeht, sondern so lange andauert, als erwartet werden kann, daß sich der Sinn dessen, dem wir zürnen, nach unserm Wunsche wende. Daher ist selbst der Tod dessen, der Unrecht getan hat, keine ausreichende Rache; denn der Tote bereut nichts. Objekt des Zornes ist also das Unangenehme, sofern es mit Gewalt zu überwinden ist. Wen du, unbewaffnet, durch Schmähungen reizest, den wirst du erzürnen, bewaffnet wirst du ihn erzittern machen. Zorn wird durch Hoffnung gesteigert, durch Furcht gemäßigt; wie die Vorstellungen die Lebensgeister in die Nerven treiben und zur Gewalt gegen das nahende Übel anregen, werden sie durch die Vorstellung von einem größeren Übel zum Herzen zurückgetrieben; eigene Verteidigung oder Flucht ist die Folge.

Objekt der Hoffnung ist anscheinendes Gut, Objekt der Furcht ein entsprechendes Übel. Woher das erhoffte Gut zu uns kommen soll, erkennen wir nie genau; denn wenn wir es erkennen würden, wäre die Sache sicher, und unsere Erwartung hieße nicht länger Hoffnung, sondern Freude. Zur Hoffnung genügen auch die geringsten Anlässe. Ja, es kann sogar etwas Unvorstellbares erhofft werden, wenn es nur ausgesprochen werden kann. Ebenso kann jedes Beliebige, auch Unvorstellbare gefürchtet werden, wenn es nur allgemein als schrecklich bezeichnet wird oder wir sehen, daß viele aus Angst vor ihm fliehen. Denn wir fliehen auch ohne Kenntnis des Grundes, z.B. beim sogenannten panischen Schrecken; wer zuerst flieht, so glauben wir nämlich, müsse doch irgendeine Gefahr, die ihn zu fliehen veranlaßt, gesehen haben. Daher bedürfen diese Affekte der Leitung durch die Vernunft. Denn die Vernunft mißt und vergleicht sowohl unsere Kräfte als die der Objekte und bestimmt danach das Maß der Hoffnung oder der Furcht, damit wir nicht in unserem Hoffen betrogen werden und aus bloßer Angst Güter, die wir besitzen, ohne rechten Grund preisgeben. Wenn so oft eine Hoffnung als trügerisch und eine Furcht als verräterisch sich herausstellt, so liegt das allein an unserer Unerfahrenheit.[35]

5. Alle Menschen werden von der Meinung beherrscht, daß es ein unsichtbares Wesen oder mehrere unsichtbare Wesen gibt, von dem oder von denen, je nachdem sie gnädig oder feindlich sind, alles Gute zu erhoffen oder alles Schlechte zu befürchten ist. Die Macht der Menschen ist nicht groß; betrachten sie nun die gewaltigen Schöpfungen des Himmels und der Erde, die sichtbare Natur, die höchst planmäßigen Bewegungen in ihr, die tierische Vernunft und die wunderbare Zweckmäßigkeit im Bau aller Geschöpfe und ihrer Organe, so müssen sie ihren eigenen Geist, der ohnmächtig auch nur zur Nachbildung all dieser Werke ist, äußerst gering einschätzen und jenes unbegreifliche Wesen, von dem die gewaltigsten Werke vollbracht sind, bewundern; von ihm erwarten sie daher, falls es gnädig ist, alles Gute, falls es erzürnt ist, alles Schlechte. Und das ist der Affekt, den man natürliche Frömmigkeit nennt; er bildet Ausgang und Grundlage aller Religionen.

6. Wenn in der Unterhaltung die freudige Empfindung, von den anderen geschätzt zu werden, wach wird, dann steigen bisweilen die Lebensgeister empor und es entsteht ein stolzes Gefühl der Erhebung; es ist darin begründet, daß bei den Menschen, die fühlen, daß ihre Worte und Taten Beifall finden, die Lebensgeister aus dem Herzen in das Antlitz emporsteigen, gleichsam als Zeugnis, daß die gute Meinung über sich selbst erkannt ist.

Dieser Empfindung entgegengesetzt ist die Scham; bei ihr werden die emporsteigenden Lebensgeister plötzlich, indem man gewahr wird oder vermutet, etwas Unschickliches habe sich ereignet, verwirrt; sie treiben dadurch das Blut in die Gesichtsmuskeln, und das nennt man »erröten«. Scham ist also eine Unlust, die sich bei Menschen, die das Lob lieben, einstellt, wenn sie dabei ertappt werden, daß sie etwas tun oder sagen, was unschicklich zu tun oder zu sagen ist. Das Erröten ist also das Zeichen eines Menschen, der alles schicklich zu tun oder zu sagen wünscht; demnach ist es bei Heranwachsenden löblich, bei anderen nicht ebenso. Denn von reifen Männern verlangt man nicht nur, daß sie nach dem Schicklichen streben sondern mehr, daß sie es bereits wissen.[36]

7. Bei plötzlicher Freude über ein Wort, eine Tat, einen Gedanken, die den eigenen Wert erhöhen, den fremden mindern, werden außerdem häufig die Lebensgeister emporgetrieben und damit entsteht das Lachen. Wer glaubt, durch Wort oder Tat sich vor anderen ausgezeichnet zu haben, neigt zum Lachen. Und ebenso enthält man sich schwer des Lachens, wenn durch einen Vergleich mit fremdem, unschönem Wort oder Tun die eigene Vortrefflichkeit um so heller hervortritt. Allgemein ist das Lachen das plötzliche Gefühl der eigenen Überlegenheit über fremde Fehler. Hierbei ist die Plötzlichkeit durchaus erforderlich; daher man über dieselben Dinge oder Scherze nicht wiederholt lacht. Fehler bei Freunden und Verwandten reizen nicht zum Lachen, da hier die Fehler nicht als fremde empfunden werden. Zur Entstehung des Lachens ist also dreierlei erforderlich: daß überhaupt ein Fehler empfunden wird, dieser ein fremder ist und die Empfindung plötzlich eintritt.

Das Weinen entsteht, wenn man sich einer bestimmten Hoffnung plötzlich beraubt sieht. Die durch die Hoffnung ausgebreiteten Lebensgeister werden durch die plötzliche Enttäuschung der Hoffnung zusammengezogen, greifen die Tränendrüsen an und treiben die Flüssigkeit, die sich in ihnen befindet, in die Augen, so daß sie übergehen.

Am meisten und häufiger weinen Menschen, welche die geringste Hoffnung auf sich selbst, die größte auf die Freunde setzen, wie Frauen und Kinder. Am meisten lachen die Menschen, deren Selbstgefühl sich weniger auf eigene Leistungen als vorwiegend auf Wahrnehmung fremder Fehler gründet. Es weinen bisweilen auch Freunde, die nach einer Entzweiung sich wieder versöhnen. Versöhnung besagt nämlich die plötzliche Zurückweisung des Gedankens an Rache. Sie weinen also wie Knaben, die sich nicht gerächt haben.

8. Die Liebe, wenn sie sichtbar ist, teilt sich in so viele Gefühle, als es Objekte der Liebe gibt, etwa in Liebe zum Gelde, Liebe zur Macht, Liebe zum Wissen usw. Liebe zum Gelde wird, wenn sie das Maß überschreitet, zur Habsucht, Liebe zur politischen Macht wird, wenn sie unmäßig ist, Ehrgeiz genannt. Sie verwirren und zerstören den Geist.[37]

Die Liebe aber, mit der ein Mensch den anderen liebt, hat zwiefache Bedeutung. In beiderlei Sinn ist sie Wohlwollen. Aber etwas anderes ist die Liebe, wenn wir uns, etwas anderes die Liebe, wenn wir anderen wohlwollen. So pflegt man den Nachbarn in anderem Sinne zu lieben als die Nachbarin; wenn wir jenen lieben, so suchen wir für ihn, wenn wir diese lieben, für uns etwas Gutes.

Auch die Liebe zum Ruhm oder zur Berühmtheit ist unter die Leidenschaften zu rechnen, wenn sie allzu groß ist. Das richtige Maß aber sowohl für die Ruhmbegierde wie für die Begierde nach anderen Dingen bestimmt ihre Nützlichkeit; d.h. inwieweit sie praktisch unser Leben bessern. So mag es uns wohl angenehm sein und vielleicht anderen mit zugute kommen, wenn wir auf Nachruhm bedacht sind. Aber es ist ein bedeutender Irrtum, etwas Zukünftiges, das wir doch nicht empfinden und dessen wir uns nicht erfreuen können, als Gegenwärtiges zu betrachten. Ebensogut könnten wir darüber trauern, daß wir vor unserer Geburt nicht berühmt gewesen sind.

9. Allzu großes Selbstgefühl ist der Vernunft hinderlich; dann wird es zu einer Störung des Geistes, bei der eine gewisse Aufblähung infolge der empordrängenden Lebensgeister empfunden wird. Das ihr entgegengesetzte Gefühl ist Verzagtheit oder Niedergeschlagenheit. Ihr ist Einsamkeit, jenem zahlreiche Gesellschaft willkommen. Berechtigtes Selbstgefühl dagegen ist keine Leidenschaft (Störung), sondern der Geisteszustand, der herrschen muß. Wer sich richtig einschätzt, schätzt sich nach seinen früheren Taten ein und wagt so, das noch einmal zu tun, was er schon getan hat. Wer sich aber überschätzt, der bildet sich ein, etwas zu sein, was er nicht ist, oder glaubt Schmeichlern; kommt es zur Erprobung in der Gefahr, so verliert er den Mut.

10. Schmerz empfinden über fremdes Unglück, d.h. mitleiden oder mitfühlen, d.h. die Vorstellung, daß das fremde Unglück einem selbst zustoßen könne, heißt Mitleid. Daher empfinden die größeres Mitleid, die ähnliche Unglücksfälle selbst erfahren haben, und umgekehrt. Denn ein Unglück, das man weniger kennen gelernt hat, fürchtet man für sich weniger. Ebenso haben wir weniger Mitleid mit denen, die[38] für Vergehen bestraft werden, weil wir entweder die Missetäter hassen oder uns genügend trauen, daß wir einem ähnlichen Vergehen nicht verfallen. Wenn daher niemand mit denen Mitleid hat, die in der Unterwelt ewige und schreckliche Qualen erdulden sollen, so liegt das entweder daran, daß wir glauben, uns könne dasselbe nicht treffen, oder daran, daß wir uns jene Qualen nicht deutlich und eindringlich genug vorstellen, oder es erklärt sich daraus, daß die Menschen, die uns davon berichten, nicht so leben, als ob sie selbst sich in diesem Punkte glaubten.

11. Der Schmerz über die Bevorzugung eines an deren, verbunden mit eigenem Streben, ist Eifer; Streben, verbunden aber mit dem Wunsche, den Bevorzugten zurückzudrängen, ist Neid.

12. Bewunderung ist ein Gefühl der Freude über etwas Neues; dem Menschen ist es nämlich angeboren, das Neue zu lieben. »Neu« nennen wir, was selten vorkommt; selten ist aber auch, was innerhalb einer Klasse groß ist. Dieses Gefühl ist nur dem Menschen eigen; denn andere Geschöpfe wundern sich zwar auch, wenn ihnen etwas Neues und. Ungewohntes begegnet, aber doch nur so lange, bis sie entscheiden können, ob es ihnen selbst schädlich oder unschädlich ist; die Menschen dagegen fragen, woher das Neue, das sie sehen, kommt, und wozu sie es gebrauchen können. Daher freuen sie sich über das Neue, weil es ihnen Gelegenheit bietet, Ursachen und Wirkungen zu erkennen. Daraus folgt, daß wer mehr als andere zum Erstaunen oder Bewundern neigt, entweder unwissender oder einsichtiger als sie ist; natürlich, denn wenn mehr für ihn neu ist, ist er unwissender, wenn er dasselbe Neue mehr bewundert, ist er einsichtiger.

Unbegrenzt wäre die Zahl der Gefühle, wenn wir ihnen nach jedem noch so kleinen Unterschiede Namen geben würden. Da aber jedes irgendeinem von den beschriebenen verwandt ist, begnügen wir uns mit den genannten.[39]

Quelle:
Thomas Hobbes: Grundzüge der Philosophie. Zweiter und dritter Teil: Lehre vom Menschen und Bürger. Leipzig 1918, S. 33-40.
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