13. Kapitel
Von den Anlagen und dem Charakter

[40] 1. Die Anlagen, d.h. die Neigungen der Menschen zu bestimmten Sachen, haben eine sechsfache Quelle, nämlich Temperament, Erfahrung, Gewohnheit, Glücksgüter, die Meinung, die ein jeder von sich selbst hat, fremde Autorität. Mit diesen andern sich auch die Neigungen.

2. Temperament: Menschen, die ein feurigeres Temperament haben, sind mindestens auch bei sonst gleichen Verhältnissen kühner; die ein kühleres Temperament haben, furchtsamer. Nach der Beweglichkeit der Lebensgeister, d.h. nach der Geschwindigkeit des Vorstellens, scheiden sich die Anlagen zwiefach. Erstens hinsichtlich der Intensität: so sind die einen lebhaften, die anderen trägen Geistes. Zweitens hinsichtlich des Umfanges: so bewegen sich die Gedanken derer, die schnellen Geistes sind, entweder auf weiten Gebieten oder sie drehen sich um irgendein einzelnes. Daher loben die einen die Phantasie, andere billigen den Verstand. Das Vorwalten des Verstandes befähigt besonders zur Beschäftigung mit Problemen und philosophischen Lehren, d.h. mit wissenschaftlichen Schlußfolgerungen, die Neigung zur Phantasie begünstigt Dichtung und Erfindung. Beide Arten von Anlagen führen zur Herrschaft über die Sprache. Der Verstand unterscheidet scharf bei ähnlichen Objekten; die Phantasie dagegen fügt in gefälliger Weise verschiedene Objekte zusammen. Jener ist bei Greisen häufig, diese mehr bei jungen Männern. Indessen findet sich oft beides bei beiden. Phantasie wird, wenn sie das Maß überschreitet, zur Torheit, wie es bei Menschen vorkommt, die eine angefangene Rede nicht zu Ende führen können, da sie sich durch fremde Gedanken von ihrem Thema abbringen lassen. Phantasiearmut[40] dagegen wird, wenn sie das Maß überschreitet, zu einer anderen Art Torheit, nämlich zum Stumpfsinn.

Die verbreitete Meinung, daß der Sinn der Greise allzusehr auf Reichtum gerichtet sei, ist unrichtig. Denn wenn viele Greise Reichtümer aufzuhäufen pflegen, die sie gar nicht werden genießen können, so treibt sie hierzu nicht eine besondere Anlage, die sich erst im Greisenalter einstellt; vielmehr war bei ihnen schon längst das Streben nach Reichtum mächtig. Und dieses wurzelt nicht in dem erhofften Genuß am Reichtum selber, sondern in der Steigerung des Selbstgefühls, ihn durch eigene Kräfte und Fähigkeiten erworben zu haben. In all dem liegt nichts Wunderbares. Denn auch, die sich den Wissenschaften widmen, pflegen ihr Wissen zu vergrößern, je älter sie werden, indem sie in ihrem Wissen die Kraft ihres Geistes wie in einem Spiegel erblicken. Kurz, alle pflegen den Beruf, den sie sich erwählt haben, als den angenehmsten bis ins Greisenalter zu pflegen und zu üben, soweit sie dazu imstande sind; und im Greisenalter ganz besonders, nicht weil sie älter, sondern weil sie darin schon so weit fortgeschritten sind, nach Art der Dinge, die nach ihrer Natur je länger desto schneller stets sich bewegen.

3. Gewohnheit: Was anfangs, solange es neu ist, der Mensch nicht mag, das bezwingt, wenn es öfters wiederholt wird, die Natur und bringt ihn dazu, zunächst es zu ertragen, dann aber es zu lieben. Dies ist vorzüglich bei der Beherrschung des Körpers, aber auch bei der Tätigkeit des Geistes ersichtlich. So gewöhnt sich den Genuß des Weines nicht leicht jemand ab, der an ihn von Jugend an gewöhnt ist, und wer mit irgendwelchen Gedanken von Kindheit an durchtränkt ist, der behält sie meistens auch im Alter bei, namentlich wer sich, außer in Vermögensangelegenheiten, um wahr und falsch nicht allzusehr bekümmert. Daher hält bei allen Völkern jeder an den Dogmen und Lehren, die er von der frühesten Kindheit an gelernt hat, so beständig fest, daß er die haßt und schmäht, die anderer Meinung sind; wie dies vornehmlich an den Schriften der Theologen zu sehen ist, die voll der heftigsten Schmähungen sind, obwohl es sich für sie am wenigsten ziemt. Solcher Menschen Sinn ist für Frieden und Freundschaft nicht geeignet.[41]

Eine Folge der Gewohnheit ist es ferner, daß Menschen, die oft und lange Gefahren ausgesetzt waren, ihre Furchtsamkeit verlieren, wie auch Menschen, die lange Zeit hindurch Ehren genossen haben, weniger anmaßend sind, da sie allmählich aufgehört haben, sich zu bewundern.

4. Erfahrung in anderen Dingen: sie bewirkt, daß man vorsichtig wird. Umgekehrt sind Menschen, die nur geringe Erfahrung besitzen, meistens unvorsichtig. Denn der menschliche Geist schreitet durch Überlegung vom Bekannten zum Unbekannten fort und kann die Folgen der Dinge auf eine weite Strecke nicht ohne Erkenntnis, die von den Sinnen ausgeht, vorhersehen, d.h. nicht ohne mit vielen Folgen bekannt zu sein. So werden wir durch unerwartete Ereignisse erzogen, ein kühner Sinn durch zahlreiche Fehlschläge, ein ehrgeiziger Sinn durch wiederholte Niederlagen, ein kecker Sinn durch wiederholte Zurückweisungen. Bei Knaben schließlich hilft die Rute, sie an alles, was Eltern und Lehrer wünschen, zu gewöhnen.

5. Durch Glücksgüter, d.h. durch Reichtum, vornehme Abkunft, politischen Einfluß wird der Geist bis zu einem gewissen Grade verändert; denn durch Reichtum und politischen Einfluß wird der Sinn gewöhnlich hochmütiger; wer größere Macht hat, verlangt, daß ihm mehr erlaubt ist; man ist dann mehr geneigt, anderen Unrecht zu tun, und weniger geeignet, mit solchen, die geringere Macht besitzen, nach gleichen Gesetzen zu verkehren. Alter Adel macht den Sinn freundlich, weil Menschen von altem Adel ohne Gefahr jedem freigebig und freundlich Ehre erweisen können, da sie der Ehre, die ihnen selbst zukommt, sicher genug sind. Der Sinn Neugeadelter ist eher mißtrauisch, indem diese, noch nicht sicher, welche Ehre sie zu beanspruchen haben, gegen Niedrigergestellte oft allzu hart werden, gegen Gleichgestellte allzu ehrerbietig.

6. Die Meinung, die ein jeder von sich hat. Sie hat zur Folge, daß Menschen, die sich für weise halten, ohne es zu sein, keine Neigung haben, ihre eigenen Fehler zu verbessern. Sie glauben, daß an ihnen nichts der Verbesserung bedürfe. Dagegen sind sie geneigt, die Taten anderer zu verbessern oder zu tadeln oder zu verspotten, da sie alles, was nicht nach ihrem Sinne geschieht, für verkehrt erachten.[42] So halten sie einen Staat für schlecht regiert, der nicht nach ihrem Wunsch regiert wird, und sind infolgedessen mehr als andere zum Umsturz geneigt. Ähnlich die Gelehrten oder die sich dafür halten; auch sie wollen für weise schlechthin gelten, denn mit der bloßen Gelehrsamkeit begnügt man sich nicht. Daher kommt es, daß Pädagogen sehr häufig schulmeisterlich und im Verkehr unerfreulich sind; da sie sich nämlich auserwählt sehen, den Charakter der Knaben zu bilden, unterlassen sie es nur ungern, auch den Charakter der Väter und schließlich den Charakter aller ihrer Mitmenschen zu kritisieren. In ähnlicher Weise beanspruchen die öffentlichen Sittenlehrer und Gottesgelehrten, die Könige selbst und die höchsten Herren der Kirche zu leiten, ohne zu wissen, von wem sie zu einer so bedeutenden Aufgabe berufen werden; da sie vielmehr den Glauben erwecken möchten, nicht den Königen und den Männern, deren Sorge Gott das Wohl des Volkes anvertraut hat, sondern ihnen selbst sei diese Aufgabe von Gott unmittelbar übertragen – zur großen Gefahr für den Staat. Und wer sollte, der vom Staat zur Auslegung der Gesetze berufen wurde, nicht eben wegen dieses Vertrauensbeweises von seiten der Bürgerschaft, sich für weiser als die anderen halten? In seiner Stellung wird er sich nicht begnügen, nur Recht zu sprechen, d.h. die Gesetze, und das besagt den Willen der Bürgerschaft, auszulegen; sondern er wird oft auch die Gesetzgebung selber beeinflussen und die Regierung bestimmen wollen, daß sie den Staat in Ordnung bringe. Und das pflegt meistens der Beginn von Bürgerkriegen zu sein. Denn wenn die Regierung von denen, die als die besten Kenner des Rechtes gelten, der Ungerechtigkeit beschuldigt wird, ergreift die unwissende Menge gegen sie, d.h. gegen den Staat selbst, die Waffen, geführt von Leuten, denen Revolution und Bürgerkrieg wegen ihres Ehrgeizes willkommen oder wegen ihrer zerrütteten Vermögensverhältnisse nützlich sind.

7. Einfluß von Autoritäten. Als Autorität bezeichne ich den, dessen Vorschriften und Beispiel jemand in irgendeiner Hinsicht im Glauben an die Weisheit dieses seines Lehrmeisters folgt. Sind es gute Autoritäten, wird der Charakter der Jünglinge zum Guten, sind sie schlecht, wird er zum[43] Schlechten gebildet. Solche Autoritäten sind die Lehrer, Väter oder wer sonst immer wegen seiner Weisheit gepriesen wird. Denn man verehrt die Männer, die gepriesen werden, und hält sie der Nachahmung für würdig. Hieraus sieht man erstens, daß Väter, Lehrer und Erzieher nicht nur, um die Jünglinge zu bilden, wahre und gute Lehren zu geben, sondern noch mehr sich in ihrer Gegenwart tugendhaft und gerecht zu benehmen haben; denn der jugendliche Charakter wird leichter durch Vorbild zu schlechten Sitten, als durch Lehren zu guten gebracht. Zweitens ersieht man, daß die Bücher, die wir lesen sollen, gesund, rein und nützlich sein müssen. Die Bücher, die von römischen Bürgern in der Blütezeit der Republik oder kurz nach ihrem Sturze und von Griechen zur Blütezeit des Athenerstaates geschrieben wurden, sind voll von Lehren und Beispielen, die den Sinn des Volkes feindlich gegen seine Könige summen, da in ihnen Verbrechen, wie der Königsmord, gelobt, ja die Könige schlechthin als Tyrannen bezeichnet werden. Der rechte Sinn des Volkes wird bis auf unsere Zeit mehr durch das Lesen von Büchern und das Anhören von Volksrednern verdorben, die ein Staat im Staate, eine Kirche in der Gesellschaft zu sein wünschen. Die Folge sind nicht Männer wie Cassius und Brutus, sondern Männer wie Ravaillac und Clemens, die Gott zu dienen glaubten, während sie durch Ermordung ihrer Könige dem Ehrgeize anderer dienten.

8. Wenn die Neigungen durch Gewöhnung so gefestigt sind, daß sie leicht und ohne daß die Vernunft widerstrebt, sich betätigen, so nennt man sie insgesamt »Charakter«. Ist dieser gut, so spricht man von Tugenden, ist er schlecht, von Lastern; da nun aber nicht für alle dasselbe gut und schlecht ist, so wird derselbe Charakter von den einen gelobt, von den anderen getadelt, d.h. von den einen als gut, von den anderen als schlecht bezeichnet, und es werden dem einen Tugenden, dem anderen Laster zugeschrieben. Daher kann man, wie man sagt, »wieviel Köpfe, soviel Sinne«, auch sagen »wieviel Menschen, soviel verschiedene Regeln für Tugend und Laster«. Dies ist indessen von den Menschen nur zu verstehen, insofern sie Menschen sind, nicht auch insofern sie Bürger sind. Denn der Mensch[44] außerhalb des Staates ist nicht verpflichtet, einer fremden Vorschrift zu folgen; innerhalb des Staates dagegen sind die Menschen durch Satzungen verpflichtet. Daraus ergibt sich, daß für den Menschen an sich und gleichsam außerhalb der staatlichen Gemeinschaft eine Moralwissenschaft nicht entwickelt werden kann, da es an einem sicheren Maßstabe fehlt, nach dem Tugend und Laster zu messen und zu bestimmen wäre. Alle Wissenschaften beginnen aber mit Begriffsbestimmungen; sonst verdienen sie es nicht, Wissenschaften zu heißen, sondern sind leeres Gerede.

9. Nur im staatlichen Leben gibt es einen allgemeinen Maßstab für Tugenden und Laster; und eben darum kann dieser nicht anders sein als die Gesetze eines jeden Staates; selbst die natürlichen Gesetze werden, wenn die Verfassung festgesetzt ist, ein Teil der Staatsgesetze. Und daß es ihrer unzählige gibt und ehemals die Staaten verschiedene Gesetze hatten, steht dem nicht im Wege. Denn wie immer die Gesetze sind, immer und überall hat es als Tugend der Bürger gegolten, gegen diese Gesetze nicht zu verstoßen, und als Laster, gegen sie zu verstoßen. Mögen also auch gewisse Handlungen, die in dem einen Staate gerecht sind, in einem anderen ungerecht sein, die Gerechtigkeit, d.h. das Befolgen der Gesetze, ist überall dieselbe und wird es sein. Die sittliche Tüchtigkeit nun, soweit wir sie an den staatlichen Gesetzen, die in verschiedenen Staaten verschieden sind, messen können, ist nur Gerechtigkeit und Billigkeit; soweit wir sie aber an den rein natürlichen Gesetzen messen, ist sie nur Mitleid. Und in diesen beiden besteht jede sittliche Tüchtigkeit. Was dagegen die drei übrigen sogenannten Kardinaltugenden außer der Gerechtigkeit angeht, die Tapferkeit, Besonnenheit und Mäßigkeit, so sind sie nicht Tugenden der Bürger als Bürger, sondern als Menschen; denn sie sind nicht so sehr dem Staate als den einzelnen Menschen selbst, die sie besitzen, nützlich. Ein Staat nämlich wird zwar erhalten nur durch Tapferkeit, Besonnenheit und Mäßigkeit der guten Bürger, zerstört aber wird er wiederum nur durch Tapferkeit, Besonnenheit und Mäßigkeit der Feinde. Tapferkeit und Besonnenheit sind überhaupt mehr eine Fähigkeit des Geistes,[45] als ein Vorzug des Charakters, und Mäßigkeit weniger eine Tugend, als ein Nichtvorhandensein der Laster, die der Begehrlichkeit der Sinne entspringen; durch sie wird weniger der Staat als vielmehr der einzelne Mensch geschädigt. Wie es für jeden einzelnen Bürger ein persönliches höchstes Gut gibt, so gibt es auch für den Staat ein höchstes allgemeines Gut. Man kann nun nicht verlangen, daß Tapferkeit und Besonnenheit eines einzelnen Menschen, wenn sie ihm allein nützlich sind, von den Staaten oder von irgend welchen anderen Menschen, denen dieselben nicht nützlich sind, gelobt, d.h. als Tugend angesehen werden.

Zusammengefaßt besagt diese ganze Lehre vom Charakter und den Anlagen also folgendes: Gute Anlagen sind solche, die geeignet sind, eine staatliche Gemeinschaft zu bilden; ein guter Charakter, d.h. sittliche Tüchtigkeit, ist ein solcher, durch den die Gemeinschaft, wenn sie gebildet ist, am besten erhalten werden kann. Alle Tugenden aber sind enthalten in Gerechtigkeit und Mitleid. Damit ist gegeben, daß diesen entgegengesetzte Anlagen Schlecht sind, und daß alle Laster in Ungerechtigkeit und Gefühllosigkeit fremden Leiden gegenüber, d.h. in dem Mangel an Mitleid, bestehen.[46]

Quelle:
Thomas Hobbes: Grundzüge der Philosophie. Zweiter und dritter Teil: Lehre vom Menschen und Bürger. Leipzig 1918, S. 40-47.
Lizenz:

Buchempfehlung

Bjørnson, Bjørnstjerne

Synnöve Solbakken. (Synnøve Solbakken)

Synnöve Solbakken. (Synnøve Solbakken)

Vor dem Hintergrund einer romantisch idyllischen Fabel zeichnet der Autor individuell realistische Figuren, die einerseits Bestandteil jahrhundertealter Tradition und andererseits feinfühlige Persönlichkeiten sind. Die 1857 erschienene Bauernerzählung um die schöne Synnöve und den hitzköpfigen Thorbjörn machte Bjørnson praktisch mit Erscheinen weltberühmt.

70 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon