15. Kapitel
Vom fingierten Menschen

[58] 1. Was bei den Griechen prosôpon heißt, heißt bei den Lateinern bald facies oder os des Menschen, bald persona; facies, wenn ein Mensch im wirklichen Leben, persona, wenn er in einer angenommenen Rolle, wie auf dem Theater der Komödien- und Tragödienschauspieler, gemeint war. Auf der Bühne sprach ja nicht der Schauspieler als solcher, sondern als irgendein anderer, etwa als Agamemnon, dessen Maske er für die Aufführung angelegt hatte. Später ersetzte man die Maske durch die einfache Ankündigung der Rolle, die der einzelne Schauspieler spielen würde. Nicht weniger nötig als im Theater sind solche Fiktionen im bürgerlichen Leben wegen der Geschäfte und Abmachungen, die im Namen von Abwesenden abgeschlossen werden. Für das bürgerliche Leben kann man nun den Begriff der »Person« folgendermaßen definieren: eine »Person« ist ein Mensch, dem Worte oder Handlungen von Menschen beigelegt werden, und zwar entweder seine eigenen oder die eines anderen; wenn seine eigenen, so ist er eine »natürliche« Person, wenn die eines anderen, eine »fingierte« Person. Wie ein Schauspieler zu verschiedenen Zeiten verschiedene Rollen spielen kann, so kann jeder beliebige Mensch mehrere Menschen darstellen. Cicero sagt: »Ich allein spiele drei Rollen, meine eigene, die des Gegners und die des Richters«; was gleichbedeutend ist mit: Ich, der eine Cicero, kann als ich selbst, als der Gegner und als der Richter gelten.

2. Wer im Staate als Person auftritt, tut das entweder im Auftrage dessen, den er darstellt, oder ohne dessen Auftrag. Alles was jemand im Namen eines tut, der von ihm[58] nicht vertreten zu werden wünscht, das wird ihm selbst, d.h. dem Handelnden allein, zugerechnet. Was er aber im Auftrage eines anderen tut, ist immer eine Handlung des Auftraggebers, bisweilen aber zugleich auch des Beauftragten, also beider. Als rechtlicher Urheber der Handlung gilt, wer erklärt hat, er wünsche, daß eine Handlung, die ein anderer für ihn ausführt, als die seine gelte; was man bei Sachen als »Eigentümer« bezeichnet, heißt bei Handlungen »Urheber«. Wer etwas auf Grund der Berechtigung, die ein anderer besitzt, tut, hat »Vollmacht«. Hat derjenige, welcher die Vollmacht erteilt, selbst nicht das Recht zu der Handlung, so hat der Beauftragte nicht in Vollmacht zu handeln. Wer daher mit dem Beauftragten verhandelt oder irgendeinen Vertrag abschließt, ohne zu wissen, ob dieser Vollmacht hat oder nicht, so tut er das auf seine Gefahr. Und wenn einer sich auf Geheiß des anderen vergeht, so vergehen sich beide, weil keiner rechtmäßig gehandelt hat, es sei denn, daß der Staat es befohlen hat, so daß der Beauftragte sich nicht weigern darf.

3. Ebenso vertritt bei Bürgschaften der Bürge die »Person« dessen, für den er bürgt. Denn er ist der Urheber des Kredites, den der Gläubiger dem Schuldner schenkt, und er heißt ihn, dem Schuldner auf seine, des Bürgen, Gefahr hin zu vertrauen; daher er im Lateinischen geradezu »fidejussor« genannt wird.

Aber nicht nur ein einzelner Mensch kann einen einzelnen vertreten, sondern es kann auch einer viele und es können viele einen vertreten. Wenn nämlich mehrere dahin übereinkommen, alles was einer von ihnen oder ein gewählter Ausschuß tut, als die Handlung jedes einzelnen von ihnen gelten zu lassen, so gilt jeder einzelne als rechtlicher Urheber der Handlungen, die der Betreffende oder der Ausschuß ausführt. Er kann also keine ihrer Handlungen anklagen, ohne sich selbst anzuklagen.

Ebenso sind alle Könige und höchsten Leiter von Staaten irgendwelcher Art, wenn sie Gott als Herrn anerkennen. Vertreter Gottes. Im besondern waren Stellvertreter Gottes, als des Königs, anfangs Moses, dann Christus und, nachdem am Pfingsttage der Heilige Geist sichtbar über die Apostel gekommen war, die Kirche, d.h. in[59] jedem Staat der oberste Lenker der Kirche. Gott hat also bei allen Völkern Eigentum nach Menschenart: Land, Rechte und sonstige, d.h. die ihm geweihten, Güter, jedoch dies alles erst nach Errichtung des Staates.

Da nämlich der Wille Gottes nur durch den Staat erkannt wird, der Wille dessen aber, der vertreten wird, für die Handlungen, die in seinem Namen ausgeführt werden, erfordert wird, so kann die Rechtspersönlichkeit Gottes nur durch den Staatswillen sein.

4. Auch eine leblose Sache kann Rechtsperson sein, d.h. sie kann Eigentum und andere Güter haben und Rechtsansprüche besitzen; so etwa ein Tempel, eine Brücke oder sonst irgendeine Sache, zu deren Erhaltung Mittel nötig sind. Ihre Vertretung führen vom Staat eingesetzte Kuratoren, da sie keinen eigenen Willen besitzt, sondern einen solchen nur durch den Staat empfängt.

Über die Verwendung solcher Fiktionen im Staate – sie ist sehr groß – werden wir in dem dritten Teil, der vom Bürger handelt, sprechen.

Obgleich die natürlichen Gesetze den Menschen als Menschen betreffen, haben wir sie doch in dieser Abteilung nur insoweit behandelt, als sie sittlich bedeutsam sind. Da aber ihre Beachtung und Innehaltung nur durch staatliches Recht und staatliche Zwangsgewalt möglich ist, werden wir sie als Rechtsgebote in ebendemselben dritten Teil ausführlich erörtern.[60]

Quelle:
Thomas Hobbes: Grundzüge der Philosophie. Zweiter und dritter Teil: Lehre vom Menschen und Bürger. Leipzig 1918, S. 58-61.
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