2. Kapitel
Von den Sehstrahlen und der Wahrnehmung von Bewegungen

[7] 1. Das Sehen ist dann deutlich und scharf, wenn das Licht oder die Farbe, die in unser Auge gelangen, eine bestimmte Gestalt besitzen, die Punkt um Punkt den einzelnen Teilen des Objektes entspricht, von denen sie ausgegangen sind.

Ein so räumlich begrenztes Licht oder räumlich begrenzte Farbe bezeichne ich als das Sehbild. Jedes Lebewesen hält nun von Natur beim ersten Anblick dieses Bild für den gesehenen Gegenstand selbst oder doch wenigstens für einen Körper, der den Gegenstand in gleicher Lage der Teile abbildet. Auch die Menschen (mit Ausnahme weniger, die das Urteil der Sinne durch den Verstand berichtigen) meinen, daß dieses Bild das Objekt selber sei und können ohne besondere Unterweisung sich nicht vorstellen, daß die Sonne und Gestirne größer und entfernter seien als sie scheinen. –

Warum aber ein Objekt bald größer bald kleiner, bald näher bald entfernter, bald in jener bald in dieser Gestalt erscheint, ist, soweit ich weiß, bisher noch von niemandem wissenschaftlich erklärt worden, ob gleich viele eine Erklärung versucht haben. Und das nimmt mich gar nicht wunder, da noch niemand auf die Idee kam, daß Licht und Farbe keine Akzidenzien der Objekte, sondern bloße Phantasmen in uns sind. Da über den wahren Ort des Sehbildes bisher noch nichts mit der wissenschaftlichen Sicherheit ermittelt worden ist, wie sie die wahre Naturforschung erstrebt, wollen wir sehen, ob wir aus früher Gesagtem die Gründe aller dieser Dinge exakt errechnen können.[7]

2. Ein jeder gesehene Punkt erscheint in einer Geraden, die einerseits durch den Mittelpunkt des Augapfels, andrerseits durch den Einfallspunkt des Strahles auf seine Hinterfläche bestimmt ist. Diese Gerade heißt der Sehstrahl, und wenn er senkrecht zur Augenoberfläche ist, bildet er die optische Achse.

Der Beweis beruht auf den Sätzen, die in der Lehre vom Körper im 24. Kap., 2 und im 22. Kap., 6 entwickelt sind. Hiernach ist offenbar, daß die Sehstrahlen sich sämtlich im Mittelpunkt des Augapfels schneiden. –

Zwei bekannte und von jedem leicht anzustellende Erfahrungen erklären sich hieraus. Verschiebt man bei der binokularen Betrachtung eines Objektes die optische Achse des einen Auges, während die andere unverändert bleibt, so erscheint das Objekt zwiefach an zwei Orten. Fixiert man ein Objekt mit beiden Augen aufmerksam, so erscheint ein jedes andere Objekt, wenn es näher oder ferner als das betrachtete, aber doch noch gesehen wird, doppelt. –

Weiter erklärt sich, daß bei der Fixation eines kleinen Objektes die Gegenstände in der Nachbarschaft undeutlich erscheinen, da ihre Strahlen nicht in der optischen Achse einfallen, sie also doppelt gesehen werden. –

Es folgt ferner, daß kein Objekt mit unbewegtem Auge scharf gesehen werden kann; denn bei unbewegtem Auge bleibt auch die optische Achse unbewegt, auf der allein ein scharfes Sehen, aber eben dadurch nur das Sehen eines Punktes möglich ist.

3. Da die Pupille über ein gewisses Maß nicht verengt werden kann, werden sehr kleine Objekte, aber auch sehr große, wenn sie weit entfernt sind, stets undeutlich gesehen.

Hieraus folgt, daß die kleinsten Teile der Gegenstände auch von dem besten Auge, selbst mit vorgesetzten Gläsern, nicht unterschieden werden können; denn die Objekte können in immer noch kleinere Teile zerteilt werden, die Auflösungskraft der Gläser kann aber nicht unbegrenzt gesteigert werden.

4. Über undeutliches Sehen, sofern es durch Augenfehler bedingt ist.[8]

Da außerhalb der optischen Achse ein deutliches Sehen nicht stattfindet, ist es, damit die Bewegung eines Objektes genau wahrgenommen wird, erforderlich, daß das Auge selbst, falls der bewegte Gegenstand nahe oder die Bewegung schnell ist, sogar der ganze Kopf bewegt werde. Sind die Objekte sehr weit entfernt, so genügt, auch wenn ihre Bewegung schnell ist, schon eine kleine Augenbewegung.

Außerdem ist zu beachten, daß (wie in dem Teil über den Körper, Kap. 25 gezeigt worden ist) Empfindung eine Bewegung ist, die, wie klein sie auch sei, doch nicht im Moment wieder verschwinden kann, daher auch das aus ihr erstehende Bild nicht sofort verschwindet, sondern mit der anfänglichen Klarheit eine Zeitlang besteht, mag diese Zeit auch noch so klein sein. –

5. Hieraus erklärt sich schon, warum kleinste Objekte, schnell bewegt, größer erscheinen müssen als sie sind. – Bewegung wird also nur so weit wahrgenommen, als wir unser Auge, d.h. die optische Achse, drehen. Daher kann die Bewegung der Sonne, des Mondes und der Fixsterne, obgleich sie außerordentlich groß ist, nicht wahrgenommen werden; denn bei ihrer Entfernung genügt eine unmerkliche Bewegung der Augenachse, um ihrer Bewegung zu folgen. Ebenso wird die Bewegung eines Objektes nicht wahrgenommen, wenn Auge und Objekt dieselbe Bewegung haben.

6. Ruht das Objekt, wird aber das Auge bewegt (wenn man etwa auf dem Meere an der Küste entlang fährt), dann kann durch Sehen nicht, allein durch Vernunft entschieden werden, wer sich wirklich bewegt: der Betrachter oder das Objekt. Aus diesem Grunde entscheidet nicht die Wahrnehmung, sondern die Vernunft darüber, ob die Erde oder die Gestirne sich in jährlicher oder täglicher Bewegung bewegen.

7. Wie der Schein einer Bewegung auch bei ruhendem Objekt und ruhendem Betrachter durch Erregung der nervösen Organe entstehen kann.[9]

Quelle:
Thomas Hobbes: Grundzüge der Philosophie. Zweiter und dritter Teil: Lehre vom Menschen und Bürger. Leipzig 1918, S. 7-10.
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