CII

Versbau und Rhythmus

[352] Die Behandlung der Verse gäbe einer Kritik, die ins Einzelne eingehen wollte, zu mancherlei Bemerkungen Stoff. Es ist nicht zu läugnen, dass hier eine Menge kleiner[352] Flecken ins Auge fallen, die man in einem übrigens so vollkommnen Ganzen lieber wegwünschte. Indess zeigt sich doch auch hier eine gewisse Einheit in dem Charakter des Dichters.

Die blosse einfache Schilderung des Gegenstandes hat in seiner Seele vor der rhythmischen Form einen gewissen Vorzug behauptet. Daher ist der Bau der Perioden besser behandelt, als der Bau der Verse, der Numerus besser, als der Rhythmus, weither letztere nicht nur reicher, sondern auch reiner seyn könnte. Sein Stoff hat sich ihm nicht gleich bei dem ersten Wurf hinlänglich rhythmisch geformt dargestellt und sein nachheriger offenbar sichtbarer Fleiss hat diesem Mangel nicht überall nachhelfen können. Die Vorzüge also, die ihm der Versbau darbot, hat er nicht eben so, als alle übrigen geltend gemacht; er hat nicht einmal hier durch strenge Beobachtung der Regeln die nothwendige Correctheit erlangt. Dass er aber diese Regeln anerkennt, dass er nicht, wie wohl Andre, glaubt, es sey genug, wenn die Verse fliessend und wohlklingend sind, sie möchten übrigens Hexameter seyn oder nicht, oder gar dass es andre Hexameter gebe, als die uns die Alten überliefert haben, beweist er genug dadurch, dass unter allen Hexametern, die wir ihm verdanken, diese nicht nur bei weitem die besten, sondern auch grossentheils regelmässig und tadelfrei, sehr viele derselben musterhaft und vortreflich sind. Sollte er aber auch in der Folge dahin gelangen, alle kleinen Nachlässigkeiten zu vermeiden, so wird er doch schwerlich je dahin kommen, dass sich die Schönheit und Pracht des Verses, der Reichthum des Rhythmus mit einem gewissen Uebergewicht in seinen Productionen ankündigen sollte; und wer ihn tiefer studirt hat, wird diess nicht einmal wünschen können.

Nimmt man daher alles zusammen, was die Diction, den Numerus und den Rhythmus unsres Dichters betrift, so erscheint er auch hier in durchgängiger Harmonie mit sich selbst und lässt auch von dieser Seite, im Ganzen genommen, nichts zu verlangen übrig. Im Einzelnen aber werden wir freilich hier kleine Flecken und Nachlässigkeiten[353] gewahr, welche die einen minder, die andern mehr stören werden, je nachdem einige wirklich strenger und zarter oder, was vielleicht eben so oft der Fall ist, kleinlicher und pedantischer in ihren Forderungen sind.

Aber selbst diese Nachlässigkeiten verdienen kaum diesen Namen, da sie fast alle wieder kleine Vorzüge mit sich führen. Man versuche es nur, Incorrectheiten in diesem Gedicht umzuändern, und man wird nur äusserst selten darin glücklich seyn, ohne zugleich irgend eine, wenn auch vielleicht kleine Schönheit der Diction aufopfern zu müssen, wenn man nur fein und tief genug in die Eigenthümlichkeit des Dichters, in die Einfachheit und Objectivität seines Vertrags eingeht. Wie leicht scheint es z.B. in dem Verse: (S. 90.)


Reichen Gebreite nicht da und unten

Weinberg und Garten


der freilich durchaus unstatthaften Verkürzung der Stammsylbe »-berg« durch die Versetzung:


Garten und Weinberg


abzuhelfen. Aber alsdann wird die Folge der Gegenstände, wie sie in der Natur ist, verändert und Herrmann nennt zuerst, was seinem Auge später erscheint, und eben so werden sich ähnliche Gründe dem Versuch einer blossen Veränderung (die nicht die ganze Periode umarbeitet) in einer Menge andrer Stellen widersetzen. Nicht also in einer Unbekanntschaft mit den Regeln des Versbaus und noch weniger in einer Geringschätzung derselben ist der Mangel, von dem wir hier reden, gegründet; er liegt tiefer in dem Charakter des Dichters und entsteht allein durch das Uebergewicht eines grossen und unläugbaren Vorzugs, so dass der Dichter, wo er glücklich genug ist, denselben ganz zu überwinden, nun auch die höchste Vollendung zugleich in der Form und in dem Tone der Darstellung erreicht.[354]

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 352-355.
Lizenz:
Kategorien: