IX

Diese Totalität ist allemal eine nothwendige Folge der vollkommnen Herrschaft der dichterischen Einbildungskraft

[147] Aber es hängt nicht bloss von der oft zufälligen Wahl des Gegenstandes, nicht von der Individualität des Dichters ab, sich dieser Totalität zu versichern und auf einmal aller Empfindungen seines Zuhörers Meister zu werden. Er muss es immer und durchaus, sobald er nur im absoluten Verstande Dichter zu heissen verdient, d.i. sobald er es versieht, die Einbildungskraft herrschend und selbstthätig zu machen.

Denn weder die Zahl der Objecte, die er in seinen Plan aufnimmt, ist hierbei vorzüglich wichtig, noch auch die Nähe, in welcher dieselben zu dem höchsten Interesse der Menschheit liegen; beides, wie sehr es auch die Wirkung seiner Arbeit verstärken kann, ist für ihren künstlerischen Werth gleichgültig; alles, was er hierbei zu thun hat, ist nur seinen Leser in einen Mittelpunkt zu stellen, von welchem[147] nach allen Seiten hin Stralen ins Unendliche ausgehen, und von dem er daher alle die grossen und einfachen Naturformen überschauen kann, die sogleich da stehen, als man die wirklichen Gegenstände ihrer zufälligen Eigenthümlichkeiten entkleidet.

Es kommt daher gar nicht darauf an, alles, was an sich unmöglich wäre, oder auch nur vieles, was manche Gattungen der Kunst ausschliessen würde, wirklich zu zeigen, sondern nur darauf, uns in die Stimmung zu versetzen, alles zu sehen. Er sammle nur unser eignes Wesen in Einen Punkt und bestimme es, wie er als Künstler immer thun muss, sich in einem Gegenstand ausser sich selbst hinzustellen (objectiv zu seyn), und es steht unmittelbar (welches dieser Gegenstand auch seyn möchte) eine Welt vor uns da. Denn unser ganzes Wesen ist dann in uns zugleich und in allen seinen Punkten rege und ist schöpferisch; was es in dieser Stimmung hervorbringt, muss ihm selbst entsprechen und wieder Einheit und Totalität besitzen; nun aber sind es diese beiden Begriffe, die wir in dem Ausdruck einer Welt mit einander vereinigen.

Es ist nemlich hier wieder derselbe Fall, den wir vorhin bei der Erreichung des Idealischen fanden. Der Dichter versetze uns, wie er seinem ersten und einfachsten Berufe nach zu thun verbunden ist, ausserhalb den Schranken der Wirklichkeit, und wir befinden uns unmittelbar von selbst in der Region, in welcher jeder Punkt das Centrum des Ganzen und mithin dieses schrankenlos und unendlich ist. Absolute Totalität muss eben so sehr der unterscheidende Charakter alles Idealischen seyn, als das gerade Gegentheil davon der unterscheidende Charakter der Wirklichkeit ist. Sobald also der Dichter nur dahin gelangt, in uns jede auf die Kenntniss der Wirklichkeit gerichtete Stimmung zu unterdrücken und alle sonst damit beschäftigten Kräfte unsres Geistes allein der Einbildungskraft unterzuordnen, so hat er seinen Zweck erreicht. Denn nun ist diese letztere allein herrschend; nun knüpft sie auf einmal alles zusammen, worin sie eine für sich bestehende Kraft, ein eignes Lebensprincip entdeckt; und da alles Positive mit einander verwandt und[148] eigentlich Eins ist, alle Absonderung von Individuen aber nur durch Beschränkung entsteht, so erfolgt hieraus, nothwendig von selbst ein Streben nach einer in sich selbst geschlossenen Vollständigkeit. Das Gemüth also, auf das der Künstler so eingewirkt hat, ist immer geneigt, von welchem Objecte es auch ausgehen möchte, doch den ganzen damit verwandten Kreis zu vollenden und immer im eigentlichsten Verstande eine Welt von Erscheinungen auf einmal zusammenzufassen.

Mehr aber als das Gemüth zu stimmen ist nicht die Absicht des Dichters, die sich überhaupt nie über das Subject hinaus erstreckt und die Gegenstände nie anders schildert, als um in ihnen den Menschen darzustellen; und so viel muss er jedesmal leisten, er mag den einfachsten Stoff, einen Sonnenaufgang, einen schönen Sommerabend oder jede andre einzelne Naturscene besingen oder eine Ilias, eine Messiade dichten. So unzertrennlich ist diese Forderung mit seinem Dichter- und überhaupt mit seinem Künstlerberufe verbunden.

Auch ist die Erfüllung derselben im genauesten Verstande nur das Werk der ächten Künstlernatur. Denn statt dass, wie man vielleicht zu glauben geneigt ist, nur der ernste, grosse, gehaltreiche Dichter am besten diese Totalität erreicht, führt uns gerade der ihr am nächsten, welchem der Genius der Kunst seine grösseste Leichtigkeit verliehen hat, der die Einbildungskraft am zartesten und leisesten zu bewegen versteht, dessen Tönen sie am üppigsten entgegenschwillt, der sie mit einer unendlichen Sehnsucht nach immer neuen Verbindungen, immer neuen Flügen erfüllt. Denn darin eben besteht diess Allumfassende, das er ihr mittheilt, dass sie nirgends so schwer auftritt, um sich an Einer Stelle festzuwurzeln, dass sie immer weiter und weiter schweift und doch immer den ganzen Kreis zugleich beherrscht, den sie durchstrichen hat; dass ihre Wonne an Wehmuth, ihre Wehmuth an Wonne gränzt; dass sie nichts mehr in der Farbe der Wirklichkeit, alles nur in dem Glanze erblickt, mit dem sie es, wie durch einen geheimnissvollen Zauber, überkleidet.[149]

Es ist nicht mehr schwer, eine Welt zu bewegen, wenn man einen Punkt ausserhalb derselben gefunden hat, auf den man mit Sicherheit fussen kann.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 147-150.
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