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Flüchtiger Blick auf das Verhältniss des Charakters unsers Dichters überhaupt zu dem besondern dieses Gedichts

[245] Vielleicht aber scheint es, als hätten wir uns in dem Vorigen zu viel mit dem Künstler überhaupt und mehr, als mit seinem neuesten vorliegenden Werke beschäftigt.[245] Wenn dieser Vorwurf gegründet ist, so zeigt er nur, wie rein sich die ganze Individualität desselben gerade in diesem seinem Werke spiegelt. Und diess ist in der That der Fall. Kein andres der Göthischen Gedichte stellt den ganzen Inbegriff seines Dichtercharakters so sichtbar dar, obgleich einzelne Seiten desselben in andern natürlich und gerade darum, weil es die früheren waren, stärker und glänzender erscheinen. Allein wenn jenes Ganze selbst auftreten sollte, musste es sich durch die Zeit und mannigfaltige Uebung sammeln und reinigen und die Stimmung, welche diess Product hervorzubringen vermochte, musste erst durch Erfahrung und Reife vorbereitet werden. Diess fühlt man sehr deutlich, sobald man sich diese Stimmung auch nur einigermassen vorzustellen versucht.

Denn wenn es je einen Mann gab, dem die Natur ein ofnes Auge verliehen hatte, alles, was ihn umgiebt, rein und klar und gleichsam mit dem Blick des Naturforschers aufzunehmen, der in allen Gegenständen des Nachdenkens und der Empfindung nur Wahrheit und gediegenen Gehalt schätzt und vor dem kein Kunstwerk, dem nicht verständige und regelmässige Anordnung, kein Raisonnement, dem nicht geprüfte Beobachtung, keine Handlung besteht, der nicht consequente Maximen zum Grunde liegen; wenn dieser Mann dann durch sein ganzes Wesen zum Dichter bestimmt und sein ganzer Charakter so durchaus mit dieser Bestimmung Eins geworden ist, dass seine Dichtung selbst überall das Gepräge jener Grundsätze und Gesinnungen an der Stirn trägt; wenn derselbe endlich eine Reihe von Jahren durchlebt hat, wenn er, mit dem classischen Geiste der Alten vertraut und von dem besten der Neueren durchdrungen, zugleich so individuell gebildet ist, dass er nur unter seiner Nation und in seiner Zeit emporkommen konnte, dass alles Fremde, was er sich aneignet, danach sich umgestaltet und er sich nur in seiner vaterländischen Sprache darzustellen vermag, in jeder andern aber und zwar gerade für seine Eigenthümlichkeit schlechterdings unübersetzbar bleibt; wenn es ihm nun so gelingt, die Resultate seiner Erfahrungen[246] über Menschenleben und Menschenglück in eine dichterische Idee zusammenzufassen und diese Idee vollkommen auszuführen – dann musste und nur so konnte ein Gedicht, wie das gegenwärtige ist, entstehen. Denn so unzertrennbar vereint ist der so eben geschilderte Charakter darin ausgedrückt, dass es nicht möglich ist, einen einzelnen Zug davon allein herauszuheben: so innig verknüpft es den einfachen Sinn des Alterthums mit der fortschreitenden Cultur neuerer Zeit, und so durchaus scheint es aus einem Geiste geflossen, der in der ganzen Individualität der wirklichen Verhältnisse, die ihn umgeben, alle Hauptformen menschlichen Daseyns rein und wahr in sich aufgenommen hat und aus dem sich wiederum alle, wie aus Einem Mittelpunkt, ableiten lassen.

Auch konnte ein solches Product nur aus der Reife eines erfahrungsreichen Lebens hervorgehn; was so geschildert ist, muss mit eignen Augen gesehn seyn, und was hierbei vorzüglich Bewunderung erregt, ist mit dieser Reife zugleich diese jugendliche Frische der Phantasie, diess Leben in der Darstellung, diese Zartheit und Lieblichkeit in der Schilderung von Empfindungen gepaart anzutreffen.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 245-247.
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