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Zwiefache Beurtheilung eines Kunstwerks

[247] Von der zwiefachen Art der Beurtheilung, welcher man jedes Kunstwerk unterwerfen sollte, haben wir nunmehr die eine vollendet; es bleibt uns jetzt noch die andre übrig.

Jedes Kunstwerk nemlich kann, wie der Künstler selbst, der es hervorbringt, als ein eignes Individuum angesehen werden. Es ist ein lebendiges Ganzes, es hat eine eigne innere Kraft, ein Lebensprincip, durch welches es eine bestimmte Wirkung äussert. So haben wir Herrmann und Dorothea bis hierher betrachtet. Ohne uns noch in die Erörterung seiner einzelnen Theile einzulassen, ohne es festgesetzten Regeln anzupassen, haben wir bloss die Wirkung geschildert, die es hervorbringt, die Ursachen derselben aufgesucht und dadurch nur seine Natur im[247] Allgemeinen, ihrem Grade und ihrer Gattung nach, bestimmt.

Aber ausser dieser seiner innern Natur gehört jedes Gedicht auch noch, seiner äussern Beschaffenheit nach, zu einer besondern Gattung von Kunstwerken und hat in dieser Hinsicht besondren Forderungen Genüge zu leisten, besondre Regeln zu befolgen. Mit diesen Regeln haben wir daher das unsrige noch jetzt zu vergleichen. Denn nur beides zusammengenommen, sein innrer Charakter und seine äussre Regelmässigkeit bestimmt die Vortreflichkeit desselben.

Die erstere Art der Beurtheilung kann man bei Kunstwerken, in einem vorzüglicheren Sinne dieses Worts, die ästhetische nennen, da sie den eigentlichen Kunst-Charakter ihres Gegenstandes, seinen ächt künstlerischen Werth, sein Verhältniss zum Ideale bestimmt, die letztere die technische, da sie denselben nicht mit einem Ideal, das nie ganz erreicht werden kann, sondern mit Regeln und Gesetzen vergleicht, die streng und vollkommen erfüllt werden müssen.

Dass man beide zu selten mit einander verbindet, ist grossentheils an einer gewissen ästhetischen Einseitigkeit Schuld. Denn die mechanischen Köpfe, welche nur für Regeln Sinn haben, vernachlässigen immer den ursprünglichen Gehalt an Originalität und Kraft und die heftigen und regellosen setzen sich beständig über die nothwendige Achtung der Technik hinaus.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 247-248.
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