LVI

Besondere Schilderung jenes allgemein beschauenden Zustandes

[253] Wenn wir den Zustand der Beschauung als einen besondren vor demjenigen allgemeinen, in welchem uns überhaupt die Kenntniss der Natur ausser uns beschäftigt, herausheben; so ist es, weil er sich durch zwei nur ihm eigenthümliche Merkmahle von allen ähnlichen unterscheidet – durch die gleichmüthige Stimmung der Seele, mit welcher dieselbe, allein durch das allgemeine Interesse des Objects geleitet, ihre beobachtende Aufmerksamkeit gleichmässig auf alle Punkte vertheilt, und durch den Umfang der Ansicht, da wir alsdann jeden Gegenstand und jede Masse von Gegenständen und so nach und nach das Ganze bis zu seinen äussersten Gränzen verfolgen. Daher ist er eben so sehr von dem Zustande der Untersuchung, in dem wir immer auf einen einzelnen bestimmten Punkt losgehn und mehr in eine Tiefe eindringen, als uns über eine Fläche verbreiten, als von demjenigen verschieden, wo wir die[253] Natur, durch einen Zufall oder einen bestimmten Zweck geführt, nur theilweise erforschen.

In allen diesen Modificationen sind unsere Sinne auf verschiedne Weise gestimmt, und diess unterscheidet schon der gewöhnliche Sprachgebrauch durch sehr bedeutende Ausdrücke. Denn wer gern in der Natur lebt, sie mit klarem, ruhigem und heitrem Auge überschaut, auf Formen, Einheit und Harmonie achtet, dem schreiben wir Lebendigkeit des Sinns; dem emsigen Untersucher, der sich seinen Weg absichtlich und methodisch vorher vorzeichnet und die Lücken unsrer Kenntniss auf eine gewissermassen systematische Weise ausfüllt, einen scharfen und eindringenden Blick; demjenigen endlich, der den sinnlichen Genuss oder wenigstens die Vorstellung desselben in der Phantasie liebt oder sich an dem Spiel, der Bewegung, der Mannigfaltigkeit erfreut, welche immer die Beschäftigung der Sinnlichkeit begleiten, Feuer der Sinne zu, indem wir uns hierbei mehr die Materie, als die Form der sinnlichen Objecte oder doch die Wirkung aller sinnlichen Thätigkeit überhaupt auf die Empfindung denken. In der That mahlt auch in Naturen, zu deren Charakter einer dieser Zustände wesentlich gehört, schon der Ausdruck des Auges diese Verschiedenheit auf eine, ihren Bezeichnungen sehr analoge Weise, wie jeder sich leicht überzeugen wird, der sich auch nur Einmal den ruhigen, klaren, männlich festen und prüfenden Blick des blossen Beobachters mit dem scharfen, durchdringenden, unruhig suchenden des eigentlichen Forschers und beide mit dem feurigen, glänzenden und beweglichen des sinnlichen Menschen verglichen zu haben erinnert.

Partheilosigkeit und Allgemeinheit sind daher die Merkmahle, welche jenen Zustand der Beschauung vor allen andern, ihm ähnlichen charakterisiren, und durch beide erhebt er sich zu dem höchsten und besten, in welchem der Mensch sich befinden kann. Denn da unsre Thätigkeit in demselben weder auf ein Bedürfniss noch auf eine einzelne Absicht bezogen wird, so ist sie von aller Bedingung, die nicht unmittelbar in ihr selbst läge, frei, eine reine Anwendung[254] aller derjenigen unsrer Kräfte, welche der Objectivität, d.h. der Vorstellung äussrer Gegenstände fähig sind, auf das Ganze der Natur.

Auf diese Weise bestimmt, kann dieselbe eigentlich nicht mehr, als zwei verschiedene Gegenstände haben, die physische und die moralische Welt, die Natur und die Menschheit, und auf beide angewandt, bringt sie zwei Wissenschaften, die Naturbeschreibung und die Geschichte, zu Stande. Denn der Geschichtschreiber, der sehr wohl von dem Geschichtsforscher und dem blossen Erzähler geschehener Begebenheiten zu unterscheiden ist, muss, gerade wie wir es in jenem Zustande schilderten, das Ganze seines Stoffs übersehen, alle Verbindungen desselben aufsuchen, immerfort unpartheiisch vor ihm dastehn und für alle mannigfaltigen menschlichen Empfindungen und Lagen Sinn haben, um jede, die er vor sich erblickt, in ihrer Eigenthümlichkeit zu verstehen.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 253-255.
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