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LVII

Verbindung des Zustandes allgemeiner Beschauung mit der Thätigkeit der dichterischen Einbildungskraft – Entstehung des epischen Gedichts

[255] Wenn nun die dichterisch gestimmte Einbildungskraft einen solchen, so wesentlich von allen anderen unterschiedenen, so bestimmt charakterisirten Zustand in der Seele vorfindet, so kann sie nicht anders, als versuchen, diesem in ihrem Gebiet eine entsprechende Form zu schaffen; und dieser Versuch ist es, durch welchen das epische Gedicht entsteht. Denn wir dürfen uns nur vorstellen, was die Kunst aus diesem Zustande, wenn sie sich desselben ganz und einzig bemeistert, machen kann, um sogleich auf alle wesentliche Bestandtheile der Epopee zu kommen.

Objectivität, Partheilosigkeit und Umfang der Ansicht waren die Hauptmerkmahle jener beschauenden Stimmung unsres Gemüths. So lange dasselbe es aber bloss mit wirklichen Gegenständen zu thun hat, fühlt es immer einen zwiefachen Mangel, den einen in Rücksicht auf seine[255] Intellectualität – dass es nie alle Seiten seines Objects übersehen, nie alle Verbindungen daran auffinden, es nie als ein nur durch sich selbst bestehendes, von allem andren unabhängiges Ganzes betrachten kann – den andren in Rücksicht auf die Sinnlichkeit – dass nicht allein die Beobachtung immerfort Lücken lässt, welche nur der Verstand durch Schlüsse ausfüllen kann, sondern dass auch die Verbindung des Ganzen immer nur auf einem Zusammenhang nach Begriffen, nicht auf sinnlicher Einheit beruht.

Diesen beiden Mängeln hilft die dichterische Einbildungskraft auf einmal ab, indem sie den Gegenstand, ihn zugleich der Wirklichkeit und dem Begriff entziehend, zu einem idealischen Ganzen macht. Da nun nichts mehr übrig bleiben kann, was nicht durchaus sinnlich wäre, und nichts mehr, was nicht, als Theil des Ganzen, mit allem Uebrigen in Verbindung stände; so findet jene beschauende Gemüthsstimmung nirgends so sehr, als in ihr ihre vollkommne und genügende Befriedigung.

Die höchste Objectivität fordert die lebendigste Sinnlichkeit und jene Allgemeinheit der Uebersicht ist unmöglich, wenn man sich nicht zu einer gewissen Höhe über seinen Gegenstand erhebt und ihn von da aus gleichsam beherrscht. Daher sind die beiden Hauptbestandtheile in dem Begriff der Epopee: Handlung und Erzählung. Nur wo Handlung ist, ist auch Leben und Bewegung, und durch Erzählung, dadurch dass der, auf welchen eingewirkt werden soll, nur Zuhörer, nicht Zuschauer ist, wird der Gegenstand unmittelbar vor den Sinn und den Verstand gebracht und kann die Empfindung nur erst, wenn er durch diess Gebiet hindurchgegangen ist, berühren.

Der Begriff der Handlung ist dem epischen Gedicht so wesentlich, dass wir noch einen Augenblick bei demselben verweilen müssen. Er ist auf der einen Seite dem eines blossen Zustandes, auf der andern dem einer Begebenheit entgegengesetzt. Die blosse Beschreibung eines Gegenstandes hat immer etwas Kaltes und Einförmiges; da bei ihr der Stoff ohne alle Bewegung ist, so kann sie diese nur durch die Behandlung erhalten. Aber die blosse Bewegung[256] allein ist noch bei weitem nicht hinreichend. Wo das höchste Leben und die höchste Sinnlichkeit gefordert wird, da muss man eine bestimmte Kraft in Thätigkeit erblicken, da muss ein Streben nach einem bestimmten Ziele vorhanden seyn, das uns für den gelingenden oder fehlschlagenden Erfolg im Voraus besorgt macht. Diess ist es, was dem Begriff der Begebenheit mangelt. Schon der unpersönliche Ausdruck des Begebens kündigt unmittelbar einen Vorfall an, der nicht durch Eine, wenigstens nicht durch eine bekannte Ursache, sondern mehr durch Zufall, durch das Zusammenkommen vieler, einzeln nicht bemerkbarer Umstände bewirkt worden ist. Nicht allein nun dass die Erzählung eines solchen Ereignisses nicht das Leben, die sinnliche Bewegung der Erzählung einer wirklichen Handlung besitzen kann; so ist sie auch nicht, wie diese, einer gleich dichterischen Einkleidung fähig. Um die Einheit hervorzubringen, welche der Kunst allemal eigen ist, muss in dem Stoff selbst schon eine gewisse Anlage befindlich seyn, für sich ein abgesondertes Ganzes zu bilden; wenigstens muss derselbe eine bestimmte Kraft in sich enthalten, deren Richtungen der Dichter verfolgen kann.

Daher kommt es, dass der Roman, der immer Begebenheiten darstellt, ob er gleich in Absicht seines Umfangs und der Verknüpfung seiner Theile zum Ganzen eine unverkennbare Aehnlichkeit mit dem epischen Gedicht an sich trägt, dennoch so wesentlich von demselben verschieden ist, dass, da diess auf der höchsten Stufe aller darstellenden Poesie steht, es von ihm noch unausgemacht ist, ob er nur überhaupt ein wahres Gedicht und ein reines Kunstwerk genannt werden kann. Wenigstens wird man nicht mit Unrecht anstehn, ihm diesen Rang einzuräumen, wenn man bedenkt, dass er mit der wesentlichen Bedingung jedes Gedichts, mit einer rhythmischen Einkleidung schlechterdings unverträglich ist und ein Roman in Versen ein abgeschmacktes Product seyn würde.

Weiter ist es daher nicht möglich, den Begriff der Epopee zu verfehlen, als wenn man die Nothwendigkeit[257] der Handlung in ihr abläugnet und ihr statt derselben Begebenheiten unterschieben will.

Was nun aber diese Handlung und die Erzählung derselben so individualisirt, dass sie die Epopee vor allen übrigen Gattungen erzählender Gedichte in ihrer Eigenthümlichkeit bezeichnen, ist die Natur jener beschauenden Stimmung des Gemüths und der dichterischen Einbildungskraft und die Wechselwirkung, in welche beide hier mit einander treten. Diese drei Stücke haben wir daher noch besonders zu untersuchen.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 255-258.
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