LVIII

Eigenschaften des Zustandes allgemeiner Beschauung

[258] Wenn der Künstler die innre Harmonie des Gemüths nicht durch Misklänge stören will, so darf er seinen Gegenstand auf keine andre, als auf eine der Stimmung, auf die er überhaupt hinarbeitet, analoge Weise behandeln. Diese nun ist bei dem epischen Gedicht der Zustand klarer, ruhiger, aber sinnlicher Betrachtung. Je sinnlicher dieselbe ist (und davon hängt doch ihr künstlerischer Werth ab), desto mehr muss sie Leben, Bewegung und Handlung suchen; aber indem sie ausser sich Thätigkeit zu sehen verlangt, kann sie keine andere fordern, als die, welche in ihr zugleich neben ihr selbst, ohne sie zu zerstören, bestehen könnte. Es muss daher eine solche seyn, die entweder über die ihr im Wege liegenden Hindernisse den Sieg erhält oder sich wenigstens, wenn sie auch unterliegt, nicht in allem ihrem Beginnen gehemmt, sondern nur eine andre Richtung zu nehmen genöthigt fühlt. Der Kampf, in welchem der epische Dichter den Menschen mit dem Schicksal zeigt und ohne den es nie eine grosse sinnliche Bewegung giebt, muss sich in Sieg oder in Frieden und Versöhnung, nicht in Niederlage und Verzweiflung endigen. Denn sonst wird die Ruhe aufgehoben, welche die erste Bedingung jenes rein beschauenden Zustandes ist; das eigne Gemüth nimmt einen überwiegenden Antheil, wir steigen von der Höhe herab, die uns über unserm[258] Gegenstand erhalten sollte, und mischen uns selbst als Theilnehmer unter die handelnden Personen.

Allein wenn der epische Dichter sich hüten muss, jene Ruhe zu zerstören, so muss er sich noch mehr in Acht nehmen, sie gar nicht in Gefahr zu bringen. Denn gerade dieselbe energisch zu machen, aus der Verbindung derselben mit lebendiger Thätigkeit männlichen Muth hervorgehn zu lassen, ist er vorzugsweise vor allen andren bestimmt. Was wir vorhin sagten, braucht er daher nur im Ganzen zu erreichen; im Einzelnen kann er seine Leser erschüttern, wie stark und nah er will, an den Abgrund der Furcht und des Entsetzens führen; vielmehr, je besser er diess zu thun versteht, desto stärker ist seine letzte endliche Wirkung. Seine Kunst, das Gemüth zu beruhigen, muss eigentlich die seyn, es mannigfaltig genug zu erschüttern, es von einer Bewegung zur andern zu führen, eine Empfindung durch die andre zu modificiren und so jede einzelne zu hindern, sich des Gemüths ausschliesslich zu bemächtigen.

Aus der Totalität seiner Darstellung muss die Ruhe, die er bewirkt, hervorgehn, und diese Totalität ist also das zweite Erforderniss seiner Gattung. Wir haben schon im Anfange dieser Blätter gesehen, dass jeder Dichter überhaupt nothwendig immer, sobald er nur rein und allein auf die Einbildungskraft einwirkt, eine gewisse Totalität erreicht, indem er uns nemlich seine Gegenstände in eine Welt hinüberträgt, in welcher sie das Einseitige und Ausschliessliche verlieren, das sie in der Wirklichkeit entstellt. Allein der epische Dichter braucht diese Eigenschaft noch in einem andren und engeren Sinn. Er muss unsern Blick wirklich so vielumfassend und allgemein, als nur immer möglich, machen, ihn immer auf die ganze Lage der Menschheit in der Natur richten. Indess kommt es auch bei ihm nicht darauf an, wie gross gerade der Kreis von Gegenständen sey, den er durchläuft, sobald er nur die Stimmung hervorbringt, die wir eben beschrieben haben: die Stimmung, in der wir für alle Objecte offen sind, für alle Sinn haben und durch ein überwiegendes und allgemeines[259] Interesse zur blossen Betrachtung hingezogen werden. Denn in dieser Stimmung herrschen von selbst die Kräfte, welche unmittelbar für sich Totalität mit sich führen.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 258-260.
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