LXI

Weitere Schilderung einer rein epischen Stimmung

[264] So wie der epische Dichter von dem höchsten Leben beseelt ist, so mahlt er auch eigentlich die ganze Dauer desselben, da hingegen der lyrische (um unter diesem Namen alles zusammenzufassen, was jenem entgegensteht) nur einzelne Zustände schildert. Denn er allein bringt eine Stimmung hervor, welche durch das ganze Leben fortdauern kann.

Wie wir es in unsrer eignen Erfahrung wirklich, aber nur dann antreffen, wann wir eine längere Zeit in unsre Erinnerung zurückrufen, so giebt er unsrer Empfindung immer neue Modificationen, lässt dieselben durch die leisesten Uebergänge auf einander folgen und versteht die Kunst, uns die ganze Tonleiter des Gefühls von Saite zu Saite durchzuführen, abstechende Töne durch Zwischentöne zu mildern, erschütternde allmählig vorzubereiten und ruhig verhallen zu lassen. Sowohl objectiv in seinem Gegenstande, als subjectiv in unsrer Einbildungskraft und Empfindung bringt er eine stetige und ununterbrochen zusammenhängende Folge hervor. Wenn der lyrische und tragische Dichter (welche in so fern in Eine Classe gehören) uns oft stossweise führen und uns zuletzt plötzlich auf einer steilen Höhe verlassen; so durchläuft er den ganzen Kreislauf, sowohl den objectiven des Lebens, als den subjectiven der Empfindung, mit uns. Denn er will nicht durch Einen plötzlichen und entscheidenden Streich Rührung und Erschütterung, sondern durch Ebenmaass und Totalität des Ganzen Erhebung und Ruhe bewirken. Was also das Leben als eine Folge und eine Folge mannigfaltiger Ereignisse, als ein Ganzes charakterisirt, diess findet man in ihm vollständig, aber in einer einzigen Handlung dargestellt wieder.

Eine entschiedene Richtung zur epischen Dichtkunst kann daher niemand, als demjenigen eigen seyn, der lieber in der äussern Wirklichkeit, als abgesondert und zurückgezogen in sich lebt, der sich mehr mit dem wirklichen sinnlichen Daseyn der Dinge, als mit dem abgezogenen Gedanken[264] und der von aller unmittelbaren sinnlichen Gültigkeit entblössten Empfindung beschäftigt; und wiederum, wer hierzu einen entschiedenen Hang hat und damit dichterisches Genie verbindet, dessen Richtung kann nicht anders, als gleichfalls entschieden episch genannt werden. Dadurch begreift man noch besser, wie sich in dem epischen Gedicht auf einmal alles vereinigt, woraus die klarste Objectivität, die lebendigste Sinnlichkeit, der thätigste Muth, die grösseste Fülle der Kraft, die allgemeinste Harmonie hervorgeht, und wie sich diese Gattung nothwendig auf den Umfang der Welt und die Dauer des ganzen Lebens ausdehnt. Denn die auf Einen bestimmten Punkt gerichtete Empfindung (um die Natur der epischen Stimmung an derjenigen, die ihr geradezu entgegengesetzt ist, zu zeigen) ist immer ein Zustand der Spannung und Anstrengung, der nicht anders, als nur Momente lang währen kann.

Wenn man das epische Gedicht seines dichterischen Gewandes entkleidet, so bleibt dasjenige übrig, was die Geschichte in ihrer geistvollsten Behandlung und die Naturbeschreibung in ihrer grössten Allgemeinheit gewährt – ein vollkommner Ueberblick über die Menschheit und die Natur in ihrer Verbindung. Der wesentliche Unterschied liegt nur in dem, was ein reines Werk der Einbildungskraft ist, darin nemlich, dass der Dichter, um zu einem so allgemeinen Ueberblick zu führen, nicht, wie jene, wirklich der ganzen Vollständigkeit der Objecte bedarf, sondern einen subjectiven Weg kennt, auch vermittelst eines einzigen Objects gerade dasselbe und in der That noch mehr zu leisten, da er das Gemüth in eine gleichsam unendliche Stimmung versetzt, in der sie über jede, möglicherweise gegebene Anzahl von Objecten hinausgeht. Unter allen Dichtern steht daher der epische auf dem höchsten Standpunkt und geniesst der weitesten Aussicht, und unter allen Dichtungsarten ist die epische am meisten fähig, den Menschen mit dem Leben zu versöhnen und ihn für das Leben tauglich zu machen.

Zugleich aber kommt keine andre Dichtungsart dem[265] einfachsten und reinsten Begriff der Kunst, der bildlichen Darstellung der Natur, so nahe und verbindet damit so vollkommen auch den eigenthümlichen Vorzug der Dichtkunst, die Schilderung der Folge der Erscheinungen und der innern Natur der Gegenstände. Mehr als irgend eine andre giebt sie zugleich der Musik Gestalt und den bildenden Künsten Bewegung und Sprache.

Aber diese Bewegung ist immer nur in dem Gegenstande, sie reisst nicht auch zugleich den Dichter und den Leser mit sich fort. Daher ist die Stimmung in beiden immer mehr verweilend, mehr bildend, da hingegen der lyrische Dichter noch in einem buchstäblicheren Sinn, als in welchem Pindar diese Worte braucht, von sich ausrufen kann:


Kein Bildner bin ich!

Nicht ruhet zögernd mein Werk

auf weilendem Fussgestell;

nein! mit vollen Segeln,

auf eilendem Nachen

wallet mein Lied dahin!


Denn in der That folgt er selbst dem Wirbel der Empfindung, den er schildert, und eilt, statt bei einzelnen zu verweilen, immer von Bild zu Bild, von Empfindung zu Empfindung fort. Der epische Dichter hält alles, das, woran er schon vorübergegangen ist, und das, wozu er eben erst gelangt, zugleich fest und vereinigt es in Ein Ganzes; der lyrische bewahrt das, was er hinter sich zurücklässt, nur noch in der Wirkung auf, die es auf das zunächst Folgende ausübt.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 264-266.
Lizenz:
Kategorien: