LXII

Definition der Epopee

[266] Wir glauben jetzt die Stimmung, aus welcher die Epopee entsteht und die sie hervorbringt, hinlänglich geschildert zu haben; es bleibt uns jetzt nur noch übrig, daraus eine objective Definition derselben zusammenzusetzen.[266]

Aber darin gerade liegt eine nicht geringe Schwierigkeit. Zwar ist es offenbar, dass die Epopee die dichterische Darstellung einer Handlung durch Erzählung ist, auch könnte man noch leicht die Bestimmung hinzufügen, dass die Handlung als ein sinnliches, für sich selbst bestehendes, von allem ausser sich unabhängiges Ganzes geschildert seyn muss, wenn diess nicht von selbst schon in den Worten: dichterische Darstellung enthalten wäre.

Aber immer fehlt noch gerade dasjenige darin, was die epische Stimmung eigenthümlich charakterisirt, das rein Darstellende, die Totalität, die Freiheit von dem Uebergewicht einer einzelnen, alleinherrschenden Empfindung. Alle diese Eigenschaften sind aufs höchste nur dunkel in dem einzigen Ausdruck: Erzählung enthalten; und selbst wenn man sich damit begnügen wollte, so ist das epische Gedicht dadurch wohl von der Idylle und der Tragödie, noch gar nicht aber von allen übrigen poetischen Erzählungen abgesondert.

Jenen eigentlich epischen Charakter durch objective nähere Bestimmungen der epischen Handlung und der epischen Erzählung auszudrücken, scheint unmöglich. Denn die letztere hat in dieser Hinsicht nicht, was sich einzeln als eine objective Eigenschaft angeben liesse, und bei der ersteren kommt es nicht sowohl auf die Art (da wir bald sehen werden, dass man jede, sogar eine entschieden tragische benutzen kann), als allein auf die Behandlung an. Es bleibt also nichts übrig, als die eigenthümliche subjective Wirkung eben so in die Definition des epischen Gedichts mit aufzunehmen, als man dieselbe in der Definition der Tragödie in der Erregung der Furcht und des Mitleids schon lange zu sehen gewohnt ist.

Hiernach könnte man daher das epische Gedicht als eine solche dichterische Darstellung einer Handlung durch Erzählung definiren, welche (nicht bestimmt, einseitig eine gewisse Empfindung zu erregen) unser Gemüth in den Zustand der lebendigsten und allgemeinsten sinnlichen Betrachtung versetzt.

Denn nun braucht man nur diesen Zustand genau zu entwickeln, um sogleich zu allen jenen wesentlichen Eigenschaften[267] der Epopee: der reinen Objectivität, der lebendigen Sinnlichkeit, der vollkommenen Totalität und der Abwesenheit aller solcher Partheilichkeit, welche die Freiheit der Ansicht verhinderte, von selbst zu gelangen.

Die Hauptmerkmahle in dieser Definition sind, wie man leicht gewahr wird, der Begriff der Handlung und der der Erzählung. Vorzüglich ist der letztere wichtig, von welchem auch die ganze Gattung ihren Namen erhalten hat. Streng genommen hätte man aus diesem zugleich ihr ganzes Wesen ableiten können. Denn was nur erzählt wird, das wird schon dadurch von selbst in eine gewisse Ferne gestellt: das kann daher nicht so unmittelbar auf die Empfindung einwirken; das wird mehr in das Gebiet des Verstandes und der blossen Betrachtung gezogen; das sieht man daher mit grösserer Unpartheilichkeit, mit mehr Ruhe an; dabei kann man endlich, da es ein abgesondertes Ganzes für sich ausmacht, mehr Verbindung, mehr Totalität aufsuchen. Allein es hätte willkührlich scheinen können, so viel aus einem einzigen Begriff abzuleiten, und auf alle Fälle war es methodischer, auf die allgemeine Quelle aller ästhetischen Wirkungen, auf die Natur des Gemüths und der Einbildungskraft zurückzugehen.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 266-268.
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