LXIII

Unterschied zwischen der Epopee und der Tragödie

[268] Unter den übrigen Dichtungsarten giebt es vorzüglich drei, welche leicht mit der Epopee verwechselt werden können: die Tragödie, die mit derselben im Begriff der Handlung, die Idylle, die damit im Begriff der Erzählung, und die ganze übrige Classe erzählender, aber nicht epischer Gedichte, die in beiden mit ihr zusammenkommen.

Die Tragödie hat man, wenigstens eine lange Zeit hindurch, für so nahe mit ihr verwandt gehalten, dass man sie zum Theil sogar eine nur unmittelbar in Handlung gesetzte Epopee genannt hat; und so lange man gewohnt war, alle ästhetischen Grundsätze allein aus den Mustern[268] der Alten zu entwickeln, konnte es dieser Meynung nicht an Anhängern fehlen. Denn bei den Griechen entstand die Tragödie nicht allein in der That aus dem Epos, sondern sie blieb auch in ihrer höchsten Vollkommenheit noch immer in hohem Grade episch, so wie die dichterische Stimmung der Alten sich überhaupt auf eine sehr überwiegende Weise zu dieser Seite hinneigt. Untersucht man aber das Wesen der Tragödie zugleich tiefer und allgemeiner und sieht man vorzüglich auf die Forderungen, welche dieselbe an die Natur und die Stimmung des Dichters macht; so überzeugt man sich leicht, dass nirgends sonst zwei sich übrigens ähnliche Dichtungsarten so weit auseinandergehen und sich so geradezu entgegengesetzt sind, dass das Wesen der einen nie sichtbarer, als durch eine Vergleichung mit der andern ins Auge fällt. Diese Hofnung, ein noch helleres Licht über die Natur der Epopee zu verbreiten, ist es, die uns einladet, hier noch bei der Tragödie einen Augenblick zu verweilen.

Ueber den Begriff der Tragödie ist man ungleich früher, als über den der Epopee einig gewesen. Dass die tragische Handlung auf eine einzige Katastrophe hingeht, dass diese Katastrophe den Menschen im Kampf mit dem Schicksale zeigt und in dem Zuschauer Furcht und Mitleid zu erregen bestimmt ist, sind fast allgemein angenommene Merkmahle desselben. Offenbar war indess der Begriff der Tragödie auch leichter zu entdecken, als der des epischen Gedichts, da jener sich nur auf die Stimmung des Gemüths zu einer einzelnen Empfindung, dieser auf einen ganzen allgemeinen Zustand desselben gründet.

Denn darin liegt gerade der grosse und mächtige Unterschied, dass die Tragödie auf Einen Punkt versammelt, was der epische Dichter auf eine unendliche Fläche ausdehnt. Beide kommen im Begriff der Handlung und folglich der Objectivität, beide in den allgemeinen Forderungen der Kunst mit einander überein; um also in ihren Resultaten so weit auseinanderzugehen, müssen sie in der ursprünglichen Gemüthsstimmung verschieden seyn, welche die Einbildungskraft nur dichterisch bearbeitet, und gerade[269] da ist es auch in der That, wo ihre contrastirende Individualität allein anzutreffen ist.

Dem epischen Gedicht haben wir den Zustand der sinnlichen Betrachtung, also einen objectiven, ruhigen und mehr intellectuellen zugeeignet. Indess ist es natürlich, dass darum in diesem Zustand die Empfindung nicht schweigt, dass sie vielmehr in ihrer grössesten Energie zugleich mit rege wird. Und wie sollte sie es nicht? da so grosse und uns so nahe liegende Gegenstände, als das Schicksal und die Menschheit alsdann vor uns dastehn und zugleich unser Blick so erhellt und gestärkt ist, dass er sie in ihrer reinsten und eigenthümlichsten Gestalt durchschaut. Wir haben diess im Vorigen nicht besonders herausgehoben, weil es sich in der That von selbst versteht, diesen Antheil der Empfindung an der Wirkung des epischen Gedichts nicht besonders mit in Anschlag gebracht, weil er in einer schon ursprünglich sinnlichen und noch dazu allein durch die Hand der Kunst zubereiteten Stimmung unmöglich fehlen kann. Aber jetzt, da der Tragödie die Empfindung gewissermassen, als ein ihr ausschliesslich angehörendes Gebiet angewiesen werden soll, ist es nothwendig diess genauer auseinanderzusetzen. Allerdings wird also durch den epischen Dichter die Empfindung erregt, er hörte auf Dichter zu seyn, wenn er nicht sogar seine Hauptwirkung darauf hinrichten wollte; allein was durch ihn in Bewegung kommt, ist der ganze empfindende Mensch, nicht eine einzelne Empfindung; es ist ferner keine, die wir auf unsern gegenwärtigen augenblicklichen Zustand, vielmehr eine, die wir, da sie durch einen, in eine gewisse Ferne gestellten Gegenstand erregt wird, allgemeiner auf unsre ganze Lage, unser ganzes Daseyn beziehen; es ist endlich noch weniger eine, die unmittelbar durch die Gegenwart des Objects geweckt wird, es ist immer eine dritte Person, der Erzähler, noch zwischen diesem und uns, und so geht auch alles in uns erst durch unser intellectuelles Vermögen hindurch, ehe es unser Gefühl zu berühren im Stande ist.

Dieser Unterschied ist überaus fühlbar, wenn wir die Erwartung vergleichen, welche die Lösung des furchtbaren[270] Räthsels, woran Oedipus Schicksal hängt, und welche der Kampf Hektors und Achills in uns erregt. Wie ungleich ängstlicher und qualvoller ist jene, wie vielmehr bloss rührend und wehmüthig diese! In beiden Fällen ist unsre Furcht, unser Mitleid gleich stark. Aber der Ton dieser Empfindungen ist anders, da in jenem der Ausgang noch nicht entschieden ist, noch er selbst, in diesem nur seine Erzählung erwartet wird, er selbst aber längst da gewesen ist. Hat der Dichter in diesen beiden Fällen diese Verschiedenheit wohl zu benutzen verstanden, so befinden wir uns in dem ersteren in der vollkommensten Ungewissheit, selbst dann, wann der Erfolg uns schon vorher bekannt war, und empfinden in dem letzteren, auch noch völlig unbekannt mit der Begebenheit, nur die sanfte Schwermuth, in die uns eine traurige Vergangenheit versenkt, wenn die Erinnerung sie wieder zurückruft.

Diese verschiedene Einwirkung erklärt sich natürlich aus der verschiedenen Form beider Dichtungsarten, dass die eine uns zum Zuschauer ihres Gegenstandes macht, die andre ihn uns nur, wie aus einer beträchtlichen Ferne, durch Ueberlieferung zuführt. Aber dass gerade diese Formen ihnen beiden nothwendig und wesentlich sind, diess ist es, was ihren Charakter bestimmt. Denn in der That lassen sich alle Eigenschaften der Tragödie am leichtesten aus dem Begriff der lebendigen Gegenwart, in die sie ihren Stoff versetzt, ableiten, so wie sich aus dem der Erzählung alle diejenigen entwickeln lassen, welche das epische Gedicht von ihr unterscheiden. Da aber nicht gleich gut auch seine übrigen Eigenthümlichkeiten daraus herfliessen, so war es besser, eine andre Methode des Raisonnements, als diese zu erwählen.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 268-271.
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