LXVII

Unterschied zwischen der Epopee und der Idylle – Charakter der letzteren in Rücksicht auf die Stimmung, aus der sie herfliesst

[277] Noch weniger, als die Tragödie ist die Idylle bisher von der Epopee durch sichre und zugleich wesentliche Merkmahle unterschieden worden. Die erstere konnte, da sie eine ihr allein eigenthümliche Form hat, wenigstens nie mit derselben verwechselt werden; die Gränzen der letzteren hingegen scheinen mit denen des epischen Gedichts wenigstens in einzelnen Fällen so in einander zu laufen,[277] dass man nicht sowohl fragen darf, wie? als vielmehr, ob beide nur überhaupt so wesentlich von einander verschieden sind, dass sie in keinerlei Ausdehnung, die man ihnen beiden und zwar innerhalb ihres Begriffes zu geben im Stande ist, mit einander zusammentreffen? Um diess gehörig zu untersuchen, wollen wir von dem gewöhnlichen Begriff beider Dichtungsarten ausgehen und sehen, wohin uns die genauere Entwicklung desselben führen wird.

Unter dem Namen der Idylle pflegt man den ganzen Theil der Poesie zusammenzufassen, welcher mehr ein häusliches Familienleben, als eine Existenz in grösseren Verhältnissen, mehr ruhige, als unternehmende Charaktere, mehr sanfte und friedliche Gesinnungen, als heftige Aufwallungen und Leidenschaften schildert und vorzugsweise bei der Freude an der Natur und in dem engen, aber lieblichen Kreise unschuldiger Sitten und einfacher Tugenden verweilt. Wo also diese Einfalt und Unschuld herrscht, dahin versetzt uns der Idyllendichter, in das Erstlingsalter der Menschheit, in die Welt der Hirten und Pflüger. Mit der Epopee hingegen verbinden wir vor allem nur den Begriff der Darstellung einer Handlung und verbannen jene einfache Unschuld so wenig aus derselben, dass sogar einige der lieblichsten und anmuthigsten Idyllenscenen in epischen Gedichten enthalten sind, wie z.B. die Hochzeit der Kinder Menelaos in der Odyssee und die Ankunft Erminias bei der Hirtenfamilie im Tasso.

Die einzigen Unterschiede, die sich hiernach festsetzen liessen, wären also bloss die, dass die Idylle wenigstens nie einen heroischen Stoff oder heroische Charaktere aufnimmt und dass sie nicht, wie die Epopee, nothwendig Handlung braucht. Allein auch von dem epischen Gedicht ist es wenigstens noch nicht ausgemacht (und wir werden diesen Punkt gleich in der Folge berühren), ob es nothwendig einen heroischen Stoff darstellen muss; und die Idylle kann durchaus voll Handlung seyn, ohne darum weniger Idylle zu bleiben. Um daher auf völlig bestimmte Gränzen zu kommen, muss man einen andren und mehr methodischen Weg einschlagen.[278]

Des Ausdrucks der Idylle bedient man sich nicht bloss, um eine eigne Dichtungsart zu bezeichnen; man gebraucht ihn auch, um damit eine gewisse Gesinnung, eine Empfindungsweise anzudeuten. Man redet von Idyllenstimmungen, Idyllennaturen. Die Eigenthümlichkeit der Idylle muss sich daher auf eine innere besondre Eigenthümlichkeit des Gemüths beziehen, sey es nun eine vorübergehende oder eine bleibende, die sich dem Charakter selbst beigemischt hat. Dadurch also unterscheidet sie sich zuerst von der Epopee, dass sie immer aus einer einzelnen und einseitigen, die letztere hingegen aus der allgemeinsten Stimmung des Geistes entspringt; und gerade in demselben Verhältnisse steht sie auch zur Tragödie. Denn die Tragödie erhält, wenigstens in ihrer höchsten Vollkommenheit, gleichfalls der Seele die Freiheit, sich gleich lebendig nach allen Seiten hin zu bewegen, weckt alle Kräfte im Menschen zugleich, ob sie schon ihr Verhältniss zu einander anders, als der epische Dichter bestimmt. Die Idylle hingegen schneidet willkührlich einen Theil der Welt ab, um sich allein in den übrigen einzuschliessen, hemmt willkührlich Eine Richtung unsrer Kräfte, um allein in der andern ihre Befriedigung zu finden.

Wo wir diess im Leben wirklich antreffen, da erscheint es uns als eine Beschränkung, obgleich, da sie gerade die lieblichste und anmuthigste Seite der Menschheit, ihre Verwandtschaft mit der Natur hervortreten macht, allemal als eine solche, die ein gewisses rührendes Vergnügen gewährt. Die Kunst aber tilgt auch das selbst, was daran Beschränkung ist, noch aus, indem sie diess Einschliessen in einen engeren Kreis nicht bloss aus freiem Willen, sondern aus der innersten Natur selbst hervorgehen lässt, aus einer Innigkeit und Naivetät der Empfindung, die sonst nicht ungestört ausströmen könnte.

Denn offenbar sind in dem moralischen Menschen zwei verschiedene Naturen sichtbar, eine, die mit seinem physischen Daseyn geradezu übereinstimmt, und eine, die sich zuerst von demselben losmacht, um reicher und gebildeter dazu zurückzukehren. Vermöge der ersteren ist er gleichsam[279] an dem Boden festgewurzelt, der ihn erzeugt hat, und gehört selbst als ein Glied zur physischen Natur, nur dass er nicht aus Noth an sie gefesselt, sondern freiwillig durch Liebe mit ihr verbunden ist. Die Idylle nun behandelt nie mehr, als die erstere, so wie sie immer nur aus einer ihr angehörenden Stimmung entspringt. Sie hat daher einen engeren Kreis, in den sie aber darum nicht weniger Gehalt für den Geist und die Empfindung, nicht weniger Seele zu legen vermag.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 277-280.
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