LXXI

Einwurf gegen die Anwendung des Begriffs der Epopee auf das gegenwärtige Gedicht

[287] Wir haben nunmehr den Begriff des epischen Gedichts hinlänglich entwickelt, um nun auch die Frage, in wie fern [287] Herrmann und Dorothea dieser Gattung beigezählt werden darf, auf eine genügende Weise zu beantworten. Vielleicht aber ist uns, indess wir bisher nur die Materialien zu dieser Untersuchung vorzubereiten beschäftigt waren, das Unheil der Leser bereits vorausgeeilt; vielleicht haben sie schon entschieden, was uns erst eine genauere Prüfung zu verdienen schien.

»Herrmann und Dorothea zu der Zahl der Epopeen rechnen heisst es der Iliade und Odyssee, dem verlornen Paradiese und Klopstocks Messias, den Meisterwerken Tassos und Ariosts an die Seite stellen. Wie darf die Erzählung der Schicksale zweier Liebenden mit der Darstellung von Handlungen verglichen werden, die einen Theil des Menschengeschlechts selbst in Bewegung setzten, die schon als merkwürdige Epochen in der Geschichte unsrer Theilnahme und unsrer Bewunderung gewiss sind und dem epischen Sänger selbst durch das Gepräge des Heroismus, das sie an sich tragen, schon einen poetisch zubereiteten Boden darbieten, auf den er mit Zuversicht auftreten kann? Was können die Begebenheiten zweier Unbekannten so Grosses und Bedeutendes enthalten, das sie der hohen Begeisterung werth macht, mit welcher der epische Sänger, mehr als jeder andere Dichter, schon in dem Augenblick, da er seine Stimme erhebt, der allgemeinen Aufmerksamkeit gewiss ist, des stolzen Vertrauens, mit dem er, mehr als jeder andre, sein Lied der Welt und der Nachwelt weiht? Warum diess Gedicht aus der Classe herausheben, in die es seiner Natur nach gehört, aus der Mittelgattung zwischen der Epopee und Idylle, welche mit der letzteren die Aehnlichkeit des Stoffs und der Charaktere, mit der ersteren die ununterbrochene Erzählung einer einzigen Handlung gemein hat? Oder heisst es nicht in der Thai, die Aesthetik, welche dem Sinn eines jeden offen stehen sollte, in das Gebiet einer dunkeln Metaphysik hinüberziehen, wenn man die verschiedenen Dichtungsarten ihrer äussern, in die Augen fallenden Merkmahle beraubt, die, wenn sie sich auch vor der philosophischen Prüfung nicht als allgemein geltend bewähren[288] sollten, doch wenigstens sehr gut für den praktischen Gebrauch zur Unterscheidung dienen? heisst es nicht ihre äussre und lebendige Gestalt verdunkeln, um ein gewisses inneres schwer zu erkennendes Wesen tiefer zu erforschen?«

Eine solche oder eine ähnliche Sprache dürfte ein grosser Theil unsrer Leser führen, und diese Einwürfe, die auf einmal die ganze Untersuchung über eine Frage abschneiden würden, die sich hiernach auf den ersten Anblick von selbst entscheidet, sind zu wichtig, um sie mit Stillschweigen zu übergehen. Sie verdienen vielmehr in mehr als Einer Hinsicht eine strenge und ausführliche Prüfung, da es eben so wenig gleichgültig ist, bloss um leicht erkennbare Merkmahle zu bekommen, unwesentliche in die Definition der Dichtungsarten aufzunehmen, als ein Gedicht, das sich gerade durch seine trefliche innere Organisation auszeichnet, zu einer blossen Mittelgattung herabzuwürdigen.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 287-289.
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