LXXII

Beantwortung dieses Einwurfs – Begriff des Heroischen

[289] Muss die Epopee nothwendig einen heroischen Stoff behandeln? und an welchen sichren und untrüglichen Kennzeichen lässt sich ein solcher von jedem andern unterscheiden? – diess sind, sieht man leicht, die beiden Fragen, auf welche allein alles hinausläuft. Denn der Mangel heroischer Charaktere und Handlungen ist das Einzige, wodurch sich Herrmann und Dorothea sichtbar von den übrigen Epopeen unterscheidet.

Der Ausdruck des Heroischen ist ohne hinzugefügte nähere Bestimmung mehr als Einer Deutung fähig: er kann theils mehr auf die sinnliche Grösse, theils mehr auf die innere Erhabenheit bezogen werden; er lässt ferner verschiedene Grade zu. Allgemein kann man den Heroismus auf eine erschöpfende Weise durch diejenige innere Stimmung definiren, in welcher, was sonst allein das Geschäft des reinen Willens ist, durch die Einbildungskraft, aber nach eben den Gesetzen ausgeführt wird, nach welchen auch jener gehandelt haben würde. Er unterscheidet[289] sich alsdann von der heroischen Schwärmerei dadurch, dass in die ser die Einbildungskraft nicht gesetzmässig, sondern willkührlich verfährt. Je nachdem nun dieselbe mehr auf die äusseren oder auf den innern Sinn bezogen ist, je nachdem sie mehr das Sinnliche, Grosse und Glänzende oder das Erhabene sucht, entsteht jene doppelte Art des Heroismus, die, wie überhaupt, so auch für den dichterischen Gebrauch sehr verschieden ist.

Der moralische Heroismus liegt ganz in der Gesinnung, er hat seinen eignen inneren Werth und ist von allem, ausser der Empfindung, aus der er entspringt, unabhängig; er versetzt uns in eine ernste, aber tiefe Rührung und führt uns in uns selbst und unser Gemüth zurück. Der sinnliche Heroismus hat keinen bestimmten moralischen Werth für sich selbst; was er hervorbringt, ist immer gross und glänzend, aber nicht immer auch gut und nützlich: er hängt daher oft von Zufälligkeiten ab und kann sich manchmal auf einen bloss blendenden Schein, auf wirkliche Vorurtheile gründen; er versetzt uns in einen gewissen sinnlichen Schwung, weckt alle Kräfte in uns, die dazu mitwirken können, und umgiebt uns mit allen den Gegenständen, mit welchen wir, sey es mit Recht oder mit Unrecht, den Begriff des Grossen, des Glänzenden, des Feierlichen verbinden.

Jene erstere Gattung ist immer nothwendig in der Tragödie in Handlung gesetzt, in der bürgerlichen sowohl, als in der eigentlich heroisch genannten; in die ser kommt nur auch die zweite zugleich hinzu. Diese letztere aber ist es, die wir, allein oder zugleich mit der ersteren, in allen bekannten Epopeen antreffen und in unserm Dichter gerade vermissen.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 289-290.
Lizenz:
Kategorien: