LXXIII

Gewöhnlicher Begriff der grossen Epopee – Seiner Unbestimmtheit ungeachtet liegt ihm Wahrheit zum Grunde

[290] Bei Dingen, die mehr durch Zufall, als nach Grundsätzen entstanden sind, entfernt man sich immer von dem[290] Gegenstande, wenn man genau in den Begriff eingeht; und so sind auch wir hier, gerade da wir dem Wesen der Epopee, so wie es uns die Erfahrung giebt, nahe bleiben wollten, wieder davon abgekommen. Denn die Anhänger des gewöhnlichen ästhetischen Systems würden mit dem eben aufgestellten Begriff des sinnlichen Heroismus, als eines Merkmahls der Epopee, noch eben so sehr, als vielleicht mit unsrer ganzen bisherigen Entwicklung unzufrieden seyn. Die Kennzeichen, an welchen sie das epische Gedicht wiedererkennen, haben, wenn sie auch weniger bestimmt seyn sollten, in der That das Verdienst, klarer und handgreiflicher zu seyn.

Sie verlangen eine Handlung, die aus der Geschichte entlehnt sey, eine grosse innere Wichtigkeit und einen beträchtlichen äussern Umfang habe; ferner Vorfälle, welche viel sinnliche Bewegung mit sich führen, starke und mannigfaltige Leidenschaften in Thätigkeit setzen, mithin überhaupt einen Stoff, bei dem weniger Individuen, als Nation und die Menschheit überhaupt interessirt sind, wodurch die handelnden Hauptpersonen natürlich zu Königen und Fürsten, überhaupt zu solchen werden müssen, die auf das Schicksal andrer einen mächtigen Einfluss ausüben; sie verlangen ausserdem (wenn auch weniger einstimmig) die Mitwirkung höherer Wesen, die Einmischung der Fabel und des Wunderbaren und endlich – was, wie wir gleich näher zeigen werden, nicht weniger hierher gehört – die Ankündigung des Gegenstandes und den Anruf der den Gesang beschützenden Gottheit in dem Eingange des Gedichts.

Alle diese Eigenschaften, die letzte allein ausgenommen, sind indess gewissermassen unbestimmt und einige unter denselben tragen unläugbar das Gepräge des Unwesentlichen und Zufälligen an sich. Der aus der Geschichte entlehnte Stoff kann mehr oder minder bekannt seyn, in dem letzteren Fall nähert er sich einem bloss von dem Dichter erfundenen; die Wichtigkeit und Grösse der Handlung, die sinnliche Bewegung ihrer einzelnen Theile ist durchaus relativ; die Einmischung der Fabel und des Wunderbaren[291] kann doch nicht anders, als durch die Stimmung wirken, die sie hervorbringt, durch die höhere Feierlichkeit, durch die grössere Ehrfurcht, die sie in der Seele des Lesers weckt, und es hängt also von der Zeit, in welcher, von den Menschen, zu welchen man redet, ab, wie viel oder wenig dadurch soll bewirkt werden können.

Dieser Unbestimmtheit ungeachtet ist indess die Wichtigkeit aller dieser Stücke zusammengenommen nicht zu läugnen; es giebt der Seele offenbar einen höheren Schwung, wenn sie sich auch sinnlich grosse Massen vor ihren Augen bewegen sieht, wenn der Dichter sie auf einen grossen und weiten Schauplatz führt, wenn er ihr zugleich den blendenden Glanz des Olymps und die furchtbaren Tiefen des Erebus aufschliesst; es stimmt sie zu einer höheren Begeisterung, als wenn das, was er ihr vorführt, bloss aus unsrem eignen Kreise, aus unsrem täglichen und gewöhnlichen Leben genommen ist. Es macht zugleich auch eine reinere künstlerische Wirkung; denn gerade weil das, was näher mit uns verwandt ist, auch noch tiefer in unser Herz eingreift, so lässt es die Einbildungskraft weniger frei, so drückt es sie nieder und zieht sie herab.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 290-292.
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