LXXIX

Hauptthema des Gedichts

[303] Mit diesem Contrast ist zugleich das Hauptthema des ganzen Gedichts aufgegeben. Wie ist intellectuelles, moralisches und politisches Fortschreiten mit Zufriedenheit und Ruhe? wie dasjenige, wonach die Menschheit, als nach einem allgemeinen Ziele streben soll, mit der natürlichen Individualität eines jeden? wie das Betragen Einzelner mit dem Strom der Zeit und der Ereignisse? wie endlich überhaupt das, was der Mensch selbst in sich schaffen und umwandeln kann, mit demjenigen, was, ausser den Gränzen seiner Macht, mit ihm selbst und um ihn her vorgeht, so vereinbar, dass jedes wohlthätig auf das andre zurück und beides zu höherer allgemeiner Vollkommenheit zusammenwirkt?

Diese Fragen sind in den Gesprächen des Wirths mit seinen beiden Freunden, in dem Streite der beiden Eltern über die Unzufriedenheit des Vaters mit dem Betragen des Sohns, in der entschlossenen Aeusserung Herrmanns über den thätigen Antheil an der allgemeinen Gefahr, endlich in der Gegeneinanderstellung seiner Meynung und der des früheren Verlobten Dorotheens über die Zeitumstände überhaupt, um nur dieser vorzüglichsten Stellen zu gedenken, nach einander aufgeworfen oder beantwortet.

Die Antwort selbst ist zugleich die richtigste für die philosophische Prüfung, die genügendste für das praktische Leben und die tauglichste zu dem dichterischen Gebrauch. Alle jene Dinge, zeigt uns der Dichter, sind vereinbar durch die Beibehaltung und Ausbildung unsres natürlichen und individuellen Charakters, dadurch dass man seinen geraden und gesunden Sinn mit festem Muth gegen alle äusseren Stürme behauptet, ihn jedem höheren und besseren Eindruck offen erhält, aber jedem Geist der Verwirrung und Unruhe mit Macht widersteht. Alsdann bewahrt das Menschengeschlecht seine reine Natur, aber bildet sie aus; alsdann folgt jeder seiner Eigenthümlichkeit, aber aus der allgemeinen Verschiedenheit geht Einheit im Ganzen hervor; alsdann erhalten die äussern Ereignisse und Zerrüttungen[303] die Thätigkeit der Kräfte rege, aber der Mensch formt darum nicht weniger die Welt nach sich selbst; alsdann wächst, mitten unter den grössesten Stürmen, ununterbrochen und nur mit dem Wechsel grösserer oder geringerer Ruhe und Zufriedenheit die allgemeine Vollkommenheit und einer nicht verächtlichen Generation folgt immer eine noch bessere nach.

Diess nun, die Menschheit selbst in ihren, zugleich durch ihre innre Kraft und die äussere Bewegung bewirkten Fortschritten, hat unser Dichter unsrer Einbildungskraft darzustellen verstanden. Er hat diesem Stoff dadurch mehr dichterische Idealität gegeben, dass er zu den Charakteren lauter rein menschliche, durch keine Cultur verzärtelte und doch der Cultur nicht verschlossene Naturen gewählt, seinen Hauptpersonen aber sogar etwas Heroisches, etwas, das an Homers Helden erinnert, beigemischt hat; dadurch mehr sinnliches Leben, dass er die wichtigsten und grössesten Begebenheiten in seine Handlung hineinzieht; dadurch endlich mehr Individualität, dass er die ganze Eigenthümlichkeit unsres vaterländischen Charakters und unsrer Zeit mit auftreten lässt. Es ist ein Deutsches Geschlecht und am Schluss unsres Jahrhunderts, das er uns schildert.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 303-304.
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