LXXVI

Ankündigung des Gegenstandes und Anruf der Muse in der Epopee

[294] Nichts charakterisirt den epischen Sänger so sehr, als die Gewissheit, mit der er auftritt; und in dieser Rücksicht gehört, wenn man einmal bloss von der grossen und heroischen Epopee spricht, die Ankündigung des Gegenstandes und der Anruf der Muse im Eingange des Gedichts gar nicht so sehr zu den unwesentlichen Erfordernissen derselben, als es vielleicht scheinen könnte.

Nicht bloss dass der Dichter die Aufmerksamkeit des[294] Lesers stärker erregt, je feierlicherer beginnt, und dass diese Zuversicht selbst seinen Sängerberuf bewährt, so muss er auch von selbst, erfüllt von einer grossen, folgenreichen, allgemein bekannten Begebenheit und in der Stimmung der Einbildungskraft, in der sie alles ins Grosse, ins Glänzende, ins Reich-Sinnliche mahlt und lauter Gegenstände um sich versammelt, die dieser Behandlung fähig sind, auf einen solchen Eingang gerathen. Er muss nicht genug eilen können, das auszusprechen, wovon er selbst überströmt, und ehe er die einzelnen Theile seines Gemähldes besonders schildert, wenigstens zuerst nur mit den Hauptumrissen das Ganze hinzustellen. Mitten unter dieser Fülle von Gegenständen und in dem Drange seiner Empfindung muss er Beistand und Hülfe, aber er kann sie nur bei der Gottheit suchen, mit der er wirklich in diesem Augenblicke näher verwandt ist, da er, wie sie, über der Welt und der Menschheit, über der Vorzeit und der Gegenwart schwebt.

Auch sind alle eigentlich sogenannten epischen Dichter hierin dem Beispiel Homers gefolgt; und wie nahe dieser Eingang mit der individuellen Stimmung des Sängers zusammenhängt, sieht man besonders deutlich an Ariost. Da er in der That nicht sowohl durch eine einzelne Handlung oder Begebenheit begeistert war, sondern sich nur mehr von dem Feuer belebt fühlte, in das die Phantasie versetzt wird, wenn sich ihr eine zahlreiche Menge mannigfaltiger Gruppen, ein weites und reichbesäetes Feld zeigt, das sie durchlaufen kann; so kündigt er bei weitem nicht so sehr seinen eigentlichen Stoff, als vielmehr die mannigfaltigen Gegenstände an, die sich in dem ganzen Umfange seiner Gesänge finden werden, und gesteht schon dadurch von selbst zu, dass er vor allem nur durch Mannigfaltigkeit und Abwechslung zu interessiren vermag.

Unser Dichter befindet sich in einem noch andern Fall. Sein Stoff ist von der Art, dass er ihm mit Sicherheit die Theilnahme jedes gefühlvollen Lesers verspricht, aber er trägt diese nicht unmittelbar an der Stirn, man muss erst tiefer in ihn eingehn, um mit ihm vertraut zu werden,[295] ihn erst kennen lernen, um ihn lieb zu gewinnen. Nach und nach also und schrittweise muss der Dichter den Leser in sein Interesse verweben, einfach und anspruchlos beginnen, um sich am Schlüsse desto gewisser des vollen Siegs zu erfreuen. Selbst der Anruf an die Muse konnte ihm daher weder eine höhere Kraft zu erlangen noch die, welche er besitzt, zu bewähren dienen; er konnte ihn, wie wir im Vorigen gesehn haben, nur dazu brauchen, seinen Stoff innerhalb des Gebietes der Kunst in dem Augenblick zu erhalten, da er in das der Wirklichkeit überzugehen droht, seine physische Wirkung zu schwächen, um seine ästhetische zu erhöhen.

Indess bringt er doch auch bei ihm unläugbar zugleich noch eine andre und dem epischen Gedicht mehr eigenthümliche Wirkung hervor. Dadurch dass er die Handlung einen Augenblick in ihrem ununterbrochenen Fortschreiten anhält, dass der Dichter an dieser Stelle in wenige Worte zusammenfasst, was er bisher geleistet hat und was ihm noch zu besingen übrig bleibt, bildet sich der Stoff des Gedichts vor unsrer Einbildungskraft sinnlicher als ein Ganzes, das einem bestimmten Ziele zueilt. Dadurch dass er einen Augenblick ausruhen und neue Kräfte sammeln muss, dass er eines Beistandes zu bedürfen glaubt, um zum Ziel zu gelangen, erscheint sein Geschäft uns bedeutender, die Bewegung in der er sich befindet, grösser und lebendiger. Selbst die Vorstellung der Muse, wenn wir uns auch unter diesem Namen nicht mehr jene ehrwürdige Gottheit des Alterthums denken, wenn wir es auch klar empfinden, dass sich der Dichter bloss an seine eigne Begeisterung wendet und dieser nur jene sinnliche Einkleidung leiht, trägt dennoch dazu bei, den dichterischen Schwung unsrer Stimmung zu erhöhen. Denn erkennen wir gleich nicht mehr die Ehrfurcht erweckende Grösse einer Bewohnerin des Olymps in ihr, so bleibt sie uns doch immer die holde und liebliche Tochter der Phantasie.[296]

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 294-297.
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