LXXVII

Zwiefache Gattung der Epopee

[297] Dass also zwischen allen übrigen bisher bekannten epischen Gedichten und unsrem gegenwärtigen in der That ein wichtiger Unterschied vorhanden ist, dass derselbe in dem heroischen Charakter liegt, welcher jenen eigen ist und diesem fehlt, und dass dieser Charakter allerdings dazu beiträgt, die eigentlich epische Wirkung zu modificiren und zu verstärken – sind die Resultate unsrer bisherigen Untersuchung.

Durch diese aber wird der bisher festgesetzte Begriff der Epopee keinesweges umgestossen. Diesem ist schlechterdings Genüge geleistet, sobald unser Gemüth auf eine dichterische Weise in den Zustand lebendiger und allgemeiner sinnlicher Betrachtung versetzt ist. Niemand wird läugnen können, dass diess eben so wohl durch einen bürgerlichen, als einen heroischen Stoff, durch eine erdichtete, als durch eine allgemein bekannte und welthistorische Begebenheit, durch Ereignisse, die nur einige wenige Personen betreffen, als durch solche, die ganze Nationen in Bewegung setzen, geschehen kann, wenn es auch in dem einen Falle leichter gelingen sollte, als in dem andern. Welchen Gegenstand er auch zur Bearbeitung wählt, so muss der Dichter immer von ihm aus auf einen allgemeinen Standpunkt führen können; wenn ihm auch sein Stoff wenig sinnlichen Reichthum darbietet, muss er ihm doch immer Gestalt und Bewegung, also sinnliches Leben mittheilen können. Alsdann aber hat er sein Geschäft vollendet und die epische Wirkung ist unläugbar vorhanden. Verbindet man mit der Epopee Nebenbegriffe von dem Umfange des Gedichts und der Grösse der Handlung, mischt man unwesentliche Dinge, wie die Fabel und das Wunderbare hinein, so ist das allein der Fehler der Kritik. Alle diese Forderungen fliessen nicht aus dem Wesen des epischen Gedichts, sie sind bloss von den vorhandenen Mustern, welche unmöglich allen künftigen Erweiterungen Gränzen vorschreiben können, hergenommen und sind[297] endlich nicht einmal an und für sich fest und sicher bestimmt.

Indess lassen sich dieselben dennoch auf etwas Bestimmtes zurückführen; sie kommen alle darin überein, dass der Stoff der Epopee ins Glänzende, Sinnlich-Reiche bearbeitet werden muss; und zwischen einem Gedicht, in welchem diess geschehen ist, und einem andren, in dem, wie z.B. in dem unsrigen, eine grössere Einfachheit und ein geringerer sinnlicher Reichthum herrscht, ist ein unverkennbarer Unterschied. Wenn es daher auch leicht ist, jene Anforderungen einzeln zurückzuweisen und es sogar mit Recht lächerlich zu machen, wenn man nur Könige und Helden und diese in einem feierlichen und majestätischen Aufzuge auf dem Schauplatz des Dichters sehen will, so bleibt es darum nicht weniger gewiss, dass, wenn der Dichter sich mit lauter sinnlich grossen Gegenständen umgiebt, er auch unsre Einbildungskraft in einen höheren und sinnlicheren Schwung versetzt, als wenn er sich nicht über den gewöhnlichen Kreis unsers Lebens erhebt. Sobald man sich an diese verschiedene Stimmung der Phantasie hält und nicht gerade auf diese oder jene Beschaffenheit des Stoffes dringt, so wird man den grossen Unterschied beider Behandlungen nicht allein nie verkennen, sondern auch fühlen, wie wichtig es ist, beide nicht mit einander zu verwechseln.

Ginge dieser Unterschied den Begriff des epischen Gedichts nicht weiter an, beträfe er bloss die Wirkung desselben überhaupt, nicht gerade seine epische insbesondre, so wäre es minder nothwendig, denselben herauszuheben. Aber wenn die Epopee auf der einen Seite nie genug Leben, Bewegung und sinnlichen Glanz erhalten kann und auf der andern den allgemeinsten Ueberblick, die tiefste Einsicht in die gesammte Natur verlangt; so müssen zwei Arten der Bearbeitung, von welchen die eine vorzugsweise den ersteren, die andre weniger diesen, aber darum (weil in der That die inneren Formen immer reiner hervortreten, je einfacher die äussern behandelt sind) vielleicht nur noch vollkommner den letzteren Endzweck erreicht,[298] auch zwei eigne Gattungen derselben bilden, und die erstere muss sogar, da sie das epische Gedicht noch sichtbarer als ein Maximum der darstellenden Kunst zeigt, in dieser Hinsicht einen Vorzug verdienen. Wenigstens müssen wir uns sehr hüten, dieselbe zu vernachlässigen oder gar geringzuschätzen, da der Charakter unsrer Zeit schon darauf hinausgeht, überall den heroischen Glanz wegzuwischen, mit dem wir die Geschichte der Vorwelt so zauberisch überkleidet sehen, und auch unsre Kunst sich offenbar hinneigt, von jener sinnlichen Höhe der Einbildungskraft (die sie oft nur darum zu verschmähen scheint, weil sie dieselbe nicht zu erreichen vermag) zu einer Wahrheit und Natur herabzusinken, die kaum noch künstlerisch heissen darf.

Wenn wir daher auch unsern Begriff der Epopee selbst nicht umzuändern brauchen, so müssen wir doch zwei wesentlich verschiedene Gattungen derselben unterscheiden, von denen wir nur die eine, gerade weil es an Mustern derselben fehlte, noch nicht gehörig zu nennen im Stande waren. So wie es ein bürgerliches Trauerspiel im Gegensatz des heroischen giebt, eben so und noch mehr, da dieser mehr sinnliche Schwung der Phantasie, wie wir gesehen haben, in der That den Begriff der Epopee näher angeht, als den Begriff der Tragödie, müssen wir auch eine ähnliche Art der Epopee annehmen; und eine solche ist Herrmann und Dorothea.

Diese beiden Gattungen nun kommen in dem wesentlichen Begriff des epischen Gedichts schlechterdings mit einander überein, gehen beide von der Darstellung einer einzelnen Handlung aus, zeigen beide den Menschen und die Welt in ihrer Verbindung und versetzen beide das Gemüth in den Zustand der sinnlichsten, aber allgemeinsten Betrachtung, sind aber in der Art, wie sie diese Wirkung erreichen, von einander verschieden.

Die heroische Epopee nemlich wählt ihren Gegenstand so, dass er eine möglichst glänzende Aussenseite hat, und ist vorzugsweise beschäftigt, diese zu zeichnen; sie mahlt ins Sinnlich-Reiche, Glänzende, Prächtige, sie versetzt (um[299] sie noch bestimmter zu charakterisiren) die Einbildungskraft in eine Stimmung, wo dieselbe sich der lebhaftesten Mitwirkung der äussern Sinne erfreut. Objectiv wird sie sich durch einen aus der Geschichte entlehnten, allgemein bekannten Stoff (denn schwerlich dürfte je ein erdichteter ihren Forderungen genügen), durch eine grössere Menge solcher Begebenheiten, die nur das öffentliche Leben der Völker unter einander, als solcher, welche eine ruhige und gewöhnliche Privatexistenz darbietet, durch eine feierliche Ankündigung ihres Gegenstandes, die ihr unentbehrlich scheint, überhaupt aber durch den Reichthum und den Glanz der Schilderungen und des Vortrags auszeichnen.

Die bürgerliche Epopee (denn so unangenehm und unpassend auch dieser Ausdruck ist, so finden wir doch keinen, welcher den Begriff nur gleich gut erfüllte) führt zu einem gleich allgemeinen Ueberblick über das Schicksal und die Menschheit und besitzt dieselbe sinnliche Individualität, dieselbe künstlerische Vollendung. Das einzige, was ihr mangelt, ist nur auch derselbe sinnliche Reichthum. Aber sie entschädigt dafür durch einen grösseren Gehalt an Gedanken und Empfindungen und setzt daher die Einbildungskraft in nähere Verbindung mit dem bloss bildenden Sinn, mit dem Geist und dem Gefühl. Denn das vergisst man gewöhnlich, dass es ausser dem Gebiete der Sinnlichkeit noch das Gebiet der Empfindungen und Gesinnungen giebt, welches dem Dichter eben so gut zu Gebote steht und gerade auch in hohem Grade gemacht ist, eine epische Wirkung hervorzubringen, sobald er nur versteht, es in der nothwendigen Allgemeinheit zu umfassen. Indem wir also unser Gedicht dieser Gattung zuschreiben, räumen wir ihm dadurch unmittelbar eine hohe und eigenthümliche Schönheit ein, eine innere Treflichkeit, die jenen höheren Glanz, jene reichere Pracht wenigstens nirgends mit Bedauern zu vermissen erlaubt.

Wir sagten im Vorigen, dass das epische Gedicht, mehr als jede andre Dichtungsart, den Gestalten, die sonst ausschliessend der bildenden Kunst angehören, Bewegung[300] und Sprache mittheilt. Wenn nun die heroische Epopee ihnen eine raschere, mehr mit sich fortreissende, vielfachere Bewegung leiht; so giebt ihnen die unsrige eine reichere, tiefer eindringende und seelenvollere Sprache.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 297-301.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Nachtstücke

Nachtstücke

E.T.A. Hoffmanns zweiter Erzählzyklus versucht 1817 durch den Hinweis auf den »Verfasser der Fantasiestücke in Callots Manier« an den großen Erfolg des ersten anzuknüpfen. Die Nachtstücke thematisieren vor allem die dunkle Seite der Seele, das Unheimliche und das Grauenvolle. Diese acht Erzählungen sind enthalten: Der Sandmann, Ignaz Denner, Die Jesuiterkirche in G., Das Sanctus, Das öde Haus, Das Majorat, Das Gelübde, Das steinerne Herz

244 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon