LXXX

Grösse in den darin aufgeführten Charakteren und Begebenheiten

[304] In den Charakteren ist gerade immer dasjenige herausgehoben, was poetisch und praktisch die grösseste Wirkung thut; es herrscht immer darin eine doppelte Art der Stärke, einmal die ursprüngliche der Natur und dann die, welche aus dem Zusammenwirken aller verschiedenen Eigenthümlichkeiten entspringt. Denn durchaus waltet die menschliche Empfindung darin vor, dass nichts gut ist, was nicht natürlich ist, dass alles Natürliche mit einander in durchgängiger Harmonie steht und dass nur aus der reinen Kraft der verschiedenen Individuen die volle der Menschheit hervorgeht.[304]

Die Charaktere der Hauptpersonen sind wirklich für sich selbst von der Art, dass sie sich allem, was nur an sich gut ist, anschliessen und mit allem eine wohlthätige Wechselwirkung unterhalten können: einige andre, denen diese Eigenschaft nicht so eigen ist, helfen diess noch in ein helleres Licht stellen, und wo das Gespräch (das fast immer diese Materie behandelt) den moralischen Werth und die Gesinnungen der Menschen berührt, da wird immer nur bewiesen, dass, wenn sich Leben im Leben vollenden soll, das Natürliche nicht unterdrückt und das Mannigfaltige nicht einförmig gemacht werden muss. Von scheinbaren Fehlern unsrer Natur aus wird in diesen Gesprächen immer gezeigt, wie sie nur Veranlassungen sind, sich zum Besseren und Höheren zu erheben, streitende Neigungen werden freundlich mit einander ausgeglichen und die Menschheit wird so sehr in ihrem Ganzen umfasst, dass es nur wenig bedeutende Züge in ihrem Bilde geben wird, die hier nicht berührt wären. Am einfachsten, allgemeinsten und schönsten ist sie in der Stelle geschildert, wo (S. 100.) der thätige und rastlose Umsegler des Meers und der Erde mit dem stillen und ruhigen Bürger verglichen wird.

So herrscht also in dem ganzen Gedicht der schöne Geist der Billigkeit, welcher alle Dinge nur von der Seite aufnimmt, von der sie gut und erhebend scheinen; so werden wir, auf eine wahrhaft epische Weise, auf den allgemeinen Standpunkt geführt, von dem wir alles und alles mit gleich grossem, partheilosem Interesse ansehn, und so schiebt sich, ohne dass wir es selbst bemerken, das ungeheure Bild der ganzen Menschheit den wenigen Personen unter, die wir vor uns handelnd erblicken.

Weniger ruhig und befriedigend, aber gleich gross und kräftig ist das Bild der Begebenheiten. Die merkwürdigste, die vielleicht die ganze Geschichte aufweist, die französische Revolution, ist von ihren drei grössesten Seiten, von dem edeln Freiheits-Enthusiasmus, der ihren Anfang bezeichnete, von dem Kriege mit dem Auslande und von der Auswanderung einer so zahlreichen Menge von Familien gezeigt. Gerade diese drei sind es auch, welche sich dem Interesse[305] der Leser am meisten empfehlen müssen: die erste durch den Antheil, den nothwendig ihre Ideen und Empfindungen daran nehmen; die zweite durch die Wichtigkeit, die sie für ihr Vaterland und ihre eigne Existenz hat; die letzte endlich durch das rührende Bild, durch welches der Dichter so viele von ihnen an dasjenige erinnert, was sie selbst theils gesehn, theils erfahren haben.

Allein das, was diese Begebenheiten allein und unmittelbar für sich enthalten, ist noch bei weitem nicht alles; es ist vielmehr noch wenig, bloss das verwirrte Gedränge des Zuges, bloss das mannigfaltige Elend der Flüchtlinge, die Gräuel und das Verderben des Kriegs vor sich zu erblicken; die Hauptwirkung entsteht erst durch die Vergleichung dieser Zeit mit der Vergangenheit aller Jahrhunderte, durch den unsichern und ahndungsvollen Blick in die Zukunft. »Unsre Zeit, heisst es, vergleicht sich den seltensten Zeiten; in der heiligen und in der gemeinen Geschichte findet sich nichts, was ihr ähnlich wäre; wer in diesen Tagen gelebt hat, hat schon Jahre gelebt; so drängen sich alle Geschichten. Die Verhältnisse der Gesellschaft sind so umgekehrt, die Stützen, auf denen eines jeden sicheres Daseyn ruhte, so umgestürzt worden, dass einzelne Menschen, mitten in unsern gebildeten und culivirten Staaten, ganze Schaaren ohne Heimath und Wohnort herumführen und dadurch an jene frühesten Zeiten erinnern, wo ganze Nationen durch Wüsten und Irren herumwanderten. Und wo ist das Ende dieses Unheils zu sehen? Man täusche sich nicht mit betrüglicher Hofnung!


– gelöst sind die Bande der Welt:

wer knüpfet sie wieder,

Als allein nur die Noth, die höchste,

die uns bevorsteht?«


So stellt uns der Dichter zugleich die höchste Unruhe, die äusserste Zerrüttung, eine wahrhaft rettungslose Verzweiflung, aber neben derselben auch das sicherste Gegenmittel, die beste Quelle des Trostes und der Hofnung dar. Wenn die Bande der Welt sich lösen, so sind wir es, die sie wieder[306] zu knüpfen vermögen. Hierin schliesst sich das ganze Gedicht zusammen, darin vereinigen sich alle einzelnen Eindrücke, die es auf uns gemacht hat. Aus dem Untergang und der Zerstörung sehen wir neues Leben, aus der Verwirrung der Völker das Glück und die fortschreitende Veredlung einer Familie hervorgehn.

Herrmann und Dorothea sind es, die uns von Anfang an allein beschäftigen, allein unsre ganze Aufmerksamkeit erschöpfen. Wie reich und erhaben jene Bilder menschlicher Charaktere, wie gross und hinreissend diese Schilderungen der Zeit hätten seyn mögen, sie hätten diesen tiefen und bleibenden Eindruck in uns nicht hervorbringen können, wenn wir sie nicht immer nur in diesen beiden Figuren gesehen, wenn sie nicht immer nur dazu beigetragen hätten, diese vollständig auszumahlen. Unwillig hätten wir Völker und Zeiten verlassen und wären nur zu den Empfindungen und dem Schicksal der beiden Liebenden zurückgekehrt, die sich einmal allein unsres ganzen Herzens, unsres ungetheilten Interesses bemächtigt hatten.

Um beide bilden sich von dem Anfange des Gedichts an zwei verschiedenartige Gruppen. Dorothea gehört zu demjenigen Theil unsrer Nation, der durch den Umgang mit unsern mehr verfeinerten Nachbarn eine höhere Cultur und mehr äussre Bildung erhalten und durch eben diese Nachbarschaft auch an den neueren philosophischen Ideen mehr Antheil genommen hat; sie befindet sich zugleich in dem Zustande höherer Spannung, in welchen jede ausserordentliche Begebenheit die Seele immer versetzt; diese Stimmung wird noch durch ihre erste unglückliche Liebe und die schwermüthige Erinnerung daran vermehrt; und diess alles zusammengenommen und in einem weiblichen Charakter mit einander verschmolzen macht sie zu einem feineren, höheren, idealischeren Wesen, als Herrmann ist, zu einem Wesen, mit dem wir noch herzlicher und inniger sympathisiren. Dagegen lässt Herrmanns Charakter nichts an männlicher Stärke und natürlicher Einfachheit vermissen, und beide vereinigt geben nun das lebendigste Bild einer fortschreitenden Veredlung unsres Geschlechts. Denn ihre[307] Aehnlichkeit ist so vollkommen, dass sie sich auf das innigste an einander anschliessen können, und ihre beiderseitige Verschiedenheit gerade von der Art, dass jeder von dem andern, was ihm selbst mangelt, empfängt.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 304-308.
Lizenz:
Kategorien: