LXXXIV

Gesetz der Einheit

[313] 3. Das Gesetz der Einheit. Die allgemeine Natur der bildenden Kunst, von welcher er das höchste Muster aufstellen soll, und sein besonderer Zweck fordern von dem epischen Dichter mehr, als von irgend einem andern eine vollkommene Einheit in der Behandlung seines Stoffs. Aber wenn ihm diese zur unerlasslichen Pflicht gemacht wird, so ist sie nicht sowohl eine solche, welche die einzelnen Theile auf eine schneidende Weise zu einem einzigen Punkte hinführt, als eine solche, welche sie nur in Ein Ganzes zusammenfasst. Die erstere ist viel mehr ausschliessend nur der Tragödie eigen.

Die Empfindung nemlich, deren Erregung der Hauptzweck des tragischen Dichters ist, kennt nur Einen Gegenstand und auf diesen Begriff wahrhaft numerischer Einheit wendet nun der Dichter den milderen und höheren des Kunstganzen an. Der betrachtende Sinn hingegen, der in der Epopee dichterisch bearbeitet wird, nimmt vielmehr immer vieles zugleich auf und verknüpft es nur in so fern, als er es aus demselben Standpunkte ansieht. Der tragische Dichter strebt also nach einer Einheit, die in der Erfahrung wirklich vorhanden ist; er eilt in der That Einem Punkte zu; dadurch wird sein Gang rasch und heftig und sein Plan[313] zieht sich, indem er alles abschneiden muss, was ihn ableiten würde, mehr in die Enge zusammen, als er sich in die Breite ausdehnt. Die Einheit des epischen Dichters hingegen liegt mehr in seiner Absicht, als in der Sache selbst; er hat daher grössere und eine bis auf einen gewissen Grad unbestimmte Freiheit mehr in seinen Plan aufzunehmen, es hängt wirklich (und auch in so fern ist die Ankündigung kein unwesentlicher Punkt) grossentheils davon ab, was und wie viel er gleich anfangs zu leisten verspricht.

Der Schluss seines Gedichts ist nicht nothwendig ein wirkliches Ende, über das hinaus sich nun nichts mehr hinzufügen liesse; es ist genug, wenn nur alle einzelnen Theile des Ganzen darin auf eine befriedigende Weise zusammenkommen, und es hängt sehr häufig nur von dem Dichter ab, ihn in einen blossen Ruhepunkt zu verwandeln, sobald es ihm nemlich gefällt, den Faden der Erzählung noch weiter fortzuspinnen.

Doch kann er seinen Plan nicht nach Willkühr ins Unbestimmte hin ausdehnen. Die Gränze ist auch hier scharf geschnitten; er darf nemlich nicht weiter gehen, als bis dahin, wo sein Stoff aufhören würde, eine Handlung zu seyn, und in eine wirkliche Begebenheit, d.h. in einen solchen Inbegriff von Ereignissen ausartete, in welchem nicht mehr die Wirksamkeit einer Handlung oder wenigstens nicht mehr die einer einzigen sichtbar bliebe.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 313-314.
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