LXXXVI

Gesetz der Totalität

[316] 5. Das Gesetz der Totalität. So wenig ein ästhetisches Gesetz dem Dichter bestimmen kann, welches Object er[316] zu wählen hat, eben so wenig kann es ihm vorschreiben, wie viele derselben er in seinen Plan aufnehmen soll. Er hat seine Pflicht erfüllt, sobald er nur das Gemüth des Lesers in der Freiheit erhält, in der es an keinen einzelnen Gegenstand, nicht einmal an eine einzelne Classe derselben gebunden ist. Diese Freiheit ist eine nothwendige Folge des Gleichgewichts zwischen den verschiednen angespielten Empfindungen; sie ist zugleich die nothwendige Bedingung zu der erforderlichen Sinnlichkeit und Lebendigkeit unsrer Ansicht.

Es ist ein schöner Vorzug der Kunst, uns von den inneren und äussern Fesseln zu lösen, durch die wir uns im wirklichen Leben so oft gehemmt fühlen; es ist ein noch edlerer, dass sie uns an der Stelle derselben eine gleich strenge, aber freie Gesetzmässigkeit einflösst. Diesen Vorzug kann sich der epische Dichter vorzugsweise zu eigen machen und dazu dient ihm gerade am meisten die Totalität, die Allgemeinheit des Ueberblicks, zu dem er sich erhebt. Je höher wir uns über unsrem Gegenstand befinden, um ihn in seinem Ganzen zu übersehen, desto freier erhalten wir uns von seiner Herrschaft, aber desto inniger durchdringt uns das Gefühl seines Zusammenhanges und seiner Gesetzmässigkeit; und in keiner Verbindung ist die Einbildungskraft so sicher, idealisch, d.h. mitten in ihrer Freiheit gesetzmässig zu bleiben, als in der Verbindung mit dem beschauenden Sinn und dem organisirenden Verstande.

Der Epopee indess kann es auch an der Menge der Objecte nicht fehlen; keine Methode ist so fruchtbar, als die der höchsten Objectivität: denn um eine Gestalt herauszuheben, braucht man andre, die ihr zur Seite stehen, um eine Bewegung zu schildern, die, welche vor ihr vorhergehn und auf sie folgen. Den grössesten Reichthum derselben wird man indess freilich nur bei der heroischen antreffen.[317]

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 316-318.
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