LXXXVII

Gesetz pragmatischer Wahrheit

[318] 6. Das Gesetz pragmatischer Wahrheit. Man kann die poetische Wahrheit überhaupt durch die Uebereinstimmung mit der Natur, als einem Object der Einbildungskraft, im Gegensatz gegen die historische, als die Uebereinstimmung mit derselben, als einem Object der Beobachtung, definiren. Historisch wahr ist, was in keinem Widerspruch mit der Wirklichkeit, poetisch, was in keinem Widerspruch mit den Gesetzen der Einbildungskraft steht.3 Die Einbildungskraft überlässt sich nun entweder bloss der Willkühr ihres eignen Spiels, das sie nur künstlerisch ausführt, oder sie folgt den innern Gesetzen des menschlichen Gemüths oder den äussern der Natur. Je nachdem sie eine dieser drei Richtungen wählt, wird die poetische Wahrheit zu einer blossen Wahrheit der Phantasie oder zu einer idealischen oder pragmatischen.

Die erstere ist unter allen Dichtungsarten bloss im Mährchen brauchbar, bei welchem die Phantasie eigentlich bloss mit ihrer eignen Kraft und an dem leichtesten Stoff spielt; alles, wonach bei einem so willkührlichen Verfahren noch gefragt wird, ist bloss, ob die Einbildungskraft[318] diese Züge in eine stetige Reihe, in Ein Bild zusammenzufassen im Stande ist. Die idealische Wahrheit ist vorzugsweise ein Eigenthum des lyrischen Dichters und der Tragödie. Sie nimmt alles als vollgültig auf, was nur nach der allgemeinen Beschaffenheit des Gemüths, nach den allgemeinen Gesetzen der Veränderungen desselben in ihm denkbar ist, es möchte sich nun übrigens noch so weit von der Natur entfernen, in der Erfahrung noch so selten gefunden werden. Die strengere pragmatische hingegen verwirft alles, was nicht innerhalb des gewöhnlichen Laufs der Natur liegt, und schliesst sich genau an die Gesetze derselben, sowohl die physischen als die moralischen, in so fern sie mit jenen übereinstimmen, an. Sie fordert geradezu das Natürliche, und wenn sie auch das Ausserordentliche und Ungewöhnliche nicht ausschliesst, so muss es doch immer vollkommen auch mit dem Naturgange im Ganzen, mit dem Gattungsbegriff der Menschheit übereinstimmen, wenn es sich gleich darüber erhebt; die idealische weist dagegen auch das nicht zurück, was diesem letzteren wirklich widerspricht und schlechterdings nur als Ausnahme in den Individuen angetroffen wird; und die blosse Wahrheit der Phantasie, die fast zu dem geraden Gegentheil von dem wird, was man gemeinhin Wahrheit nennt, übertritt sogar noch diese Schranken. Die Gränzen der idealischen und pragmatischen Wahrheit müssen natürlich, auf einzelne Fälle angewendet, sehr oft zusammenzulaufen scheinen; man wird sie indess nie verkennen, sobald man sich erinnert, dass alles das bloss idealische Wahrheit haben kann, worauf ein Gemüth stösst, das sich, abgesondert von dem Leben in der äussern Wirklichkeit, in seine Ideen und seine Empfindungen vertieft und der äussern Geschäftigkeit und der lebendigen Heiterkeit eine innere Thätigkeit und einen bloss sentimentalen Genuss unterschiebt, da hingegen in dem, welcher sich überall an die Natur ausser ihm anschliesst, in ihr allein lebt, webt und geniesst, nichts vorgehen kann, was nicht die höchste und in die Augen fallendste pragmatische Wahrheit besässe.[319]

Diess aber ist das Gebiet des epischen Dichters. Seine Kunst geht aus der Fülle des Lebens hervor und führt eben so auch dahin zurück. Er flieht daher alle gleichsam übermässige Verfeinerung in Gedanken und Empfindungen, alle verwickelten und schwer zu ergründenden Charaktere und Empfindungen; was damit verwandt ist, kommt ihm unnatürlich und kleinlich zugleich vor. Er braucht grosse und helle Massen, und Gegenstände jener Art vertragen das sonnichte Licht nicht, das er über seinen Gegenstand auszugiessen gewohnt ist. Er will ausserordentliche Menschen mahlen, aber doch nur solche, die es durch den Grad ihrer Kraft, durch die Reinheit ihres Wesens, nicht gleichsam durch eine seltne Organisation sind; im Ganzen sollen sie mit allem, was nur überall das Menschlichste und Natürlichste ist, in dem vollkommensten Einklange stehen; was er darstellt, muss der blosse gesunde und gerade Sinn durchaus zu fassen und sich anzueignen im Stande seyn. Diess auch allein ist der reinen objectiven Darstellung fähig, von der er sich niemals entfernt.

Dessenungeachtet kann er indess nicht weniger auch einen Gegenstand, der nah an das bloss Idealische gränzt, aus jener gleichsam fremden Welt in seine Dichtung hinüberführen; und wir haben im ersten Theile dieser Abhandlung gesehn, dass die Eigenthümlichkeit der neueren Poesie und besonders die unsers Dichters grossentheils hierauf beruht. Nur muss er alsdann nicht versäumen, dagegen das Gemüth seines Lesers vollkommen pragmatisch zu stimmen und dadurch wieder den Misklang aufzulösen, den sonst ein solcher Gegenstand in dieser Gattung nothwendig bewirken müsste. Ist er aber hierin glücklich, so erhöht er den Reiz seiner Dichtung, da er ihre Gränzen erweitert, ohne ihrem Charakter zu schaden. Denn wenn es eine Hauptregel für den Dichter ist, die Reinheit der Stimmung, welche jeder Dichtungsart eigenthümlich angehört, in ihrer höchsten Vollkommenheit zu bewahren; so ist es eine nicht minder wichtige, die Gegenstände, welche jede sich natürlicher Weise zueignet, so viel als[320] möglich zu vervielfältigen und gegen einander umzutauschen.

Die heroische Epopee läuft weniger Gefahr, gegen diess Gesetz zu verstossen, als die ihr entgegengesetzte. Aber je genauer auch diese es beobachtet, je mehr sie hohen und feinen Charaktergehalt zugleich mit dieser natürlichen Einfachheit zu verbinden weiss, je mehr sie originelle Individualität in einer Dichtungsart geltend macht, die immer, selbst in den Individuen, nur die Gattung zu zeigen strebt, desto grösser ist ihre Wirkung.

Denn der Mensch ist nie schöner, als wenn er sich dasjenige, was er ausschliesslich durch seine eigne Kraft gebildet hat, dergestalt aneignet, dass es in ihm als eine allgemeine Eigenschaft der ganzen Menschheit erscheint.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 318-321.
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