LXXXVIII

Plan des Gedichts – Gang der Handlung

[321] Diess sind die vorzüglichsten Gesetze der epischen Dichtkunst. Sie sind alle eigentlich nur verschiedene Ausdrücke der lebendigsten Objectivität, Anwendungen des allgemeinen Begriffs der Epopee auf die einzelnen Forderungen, welche an den Dichter ergehen. Daher liessen sie sich vielleicht auch noch unter andre Benennungen bringen; uns schien es indess die allgemeine Uebersicht am meisten zu erleichtern, zuerst diese Regeln festzusetzen, welche der Dichter bei allen einzelnen Theilen seines Verfahrens beobachten muss, und dann diese letzteren selbst durchzugehen. Mit diesem letzten Geschäft wollen wir nunmehr noch diese, nur vielleicht zu ausführliche Beurtheilung beschliessen und den Plan, die Charaktere und den Vortrag unsres Gedichts nach den eben aufgestellten Gesetzen mit wenigen Worten prüfen. Zugleich wird uns diess Gelegenheit geben, noch diejenigen einzelnen Bemerkungen einzustreuen, die in dem bisherigen Gange keinen Platz finden konnten.

Der Plan unsres Gedichts vereinigt die zwiefache Schönheit in sich, dass alle einzelnen Theile vollkommen fest[321] und doch durchaus zwanglos verbunden sind. Niemand wird in einer Composition von so kleinem Umfange die polypenartige Erzeugung eines Theils aus dem andern erwarten, die jedem für sich noch eine eigne Selbstständigkeit einräumt, welche die Iliade zu einem so grossen und Ariosts rasenden Roland (denn auch hierin steht nur der Italiänische Sänger dem Griechischen nahe) zu einem so reichen und mannigfaltigen Ganzen macht. Dagegen drängt sich auch nicht, wie man wohl sonst der modernen Dichtkunst Schuld gegeben hat, das Einzelne auf eine harte und mehr dem Verstande angemessene, als der Phantasie gefällige Weise in Eine Spitze zusammen. Vielmehr geht jedes folgende Glied in der Kette von Umständen frei und willig aus dem vorhergehenden hervor und doch ist das Ganze eine stetige, überall zusammenhängende Folge von Begebenheiten. Indem es vom Anfange aus zu einer gewissen Mitte aufsteigt und sich von da wieder bis zum Ende hinabsenkt, bildet es einen kleinen, aber durchaus geschlossenen und in allen seinen Punkten erfüllten Kreis.

In dem Ende selbst schliessen sich alle Theile, die der Dichter vorher einzeln gezeigt hat, vollkommen zusammen; alle vorher aufgeregten Empfindungen finden darin ihre genügende Befriedigung. Herrmanns Wunsch Dorotheen zu besitzen ist erfüllt; die Naturen, die für einander bestimmt schienen, haben sich gefunden und beginnen nun ein neues und schöneres Leben. Indess bleibt es doch immer, nach wahrhaft epischer Weise, mehr ein Schluss des Dichters, als ein Ende der Handlung selbst. Wenn auch das Mädchen eingewilligt hat, wenn die Eltern ihre Zustimmung gegeben haben; so könnte in der Wirklichkeit doch noch mehr als Ein Hinderniss unerwartet dazwischen treten und die wirkliche Verbindung, die noch nicht geschehen ist, aufschieben. Wäre es möglich, diesen Stoff als Tragödie zu behandeln, so würde sogar erst hier der Knoten geschürzt werden, erst hier die Handlung angehen müssen. So mächtig aber ist die Stimmung, in welche der Dichter unser Gemüth versetzt, so ganz hat er[322] dasselbe in seiner Gewalt, dass, wenn wir alsdann mit Gewissheit plötzliche Schwierigkeiten erwarten würden, wir hier die eigentliche Vollziehung der Verbindung selbst nur als eine nothwendige Folge ansehen, die der Dichter bloss darum nicht mit in seinen Plan aufnimmt, weil sie sich nunmehr natürlich von selbst versteht.

Bei einem Stoff, wie ihn unser Dichter wählte, musste nothwendig ein grosser Theil seines Gedichts in Gesprächen bestehen; eine gewisse Armuth an Handlung kann ihm bei einem solchen Gegenstande nicht als Fehler vorgeworfen werden. Wohl aber muss man ihm den Reichthum an Bewegung zum Verdienst anrechnen, den er sich auch hier noch zu verschaffen gewusst hat. Wenn man von dem Dichter nicht mehr verlangen kann, als dass er aus seinem Stoff alles das Leben, alle die sinnliche Mannigfaltigkeit ziehe, deren derselbe fähig ist, so hat der unsrige diese Pflicht im genausten Verstande erfüllt. Wir wollen hier nicht anführen, wie gut er das Gedränge und die Verwirrung des Zuges, das Elend des Kriegs, die merkwürdige Begebenheit, die ihn veranlasste, zu benutzen verstanden hat; diese Dinge waren vielleicht zu gross und zu sehr in die Augen fallend, um stillschweigend bei ihnen vorüberzugehen. Aber wie anschaulich hat er auch das geschildert, was allein das Werk seiner Einbildungskraft ist; wie macht er uns mit dem Hause, den Besitzungen, dem Wohnort, den Schicksalen der Familie Herrmanns bekannt! Wie lebendig wird nun alles um uns her, da wir mit der Mutter den weiten Hof, den wohlbepflanzten Garten und Weinberg, das fruchtbare Feld durchstrichen haben, aus ihrem Munde den fürchterlichen Brand des Städtchens, aus den Gesprächen des Vaters die allmählige Aufnahme desselben erfahren, da wir die Familie bis auf den Ahnherrn hin kennen!

In der That werden nur wenige auch unter den grösseren Gedichten so viele und so grosse sinnliche Gegenstände aufstellen; das einzige, was man vermissen kann, ist bloss, dass es nicht möglich war, auch nur alle bedeutenden unter denselben zugleich in Handlung zu[323] setzen. Aber diess ändert nicht sowohl die Stärke, als nur die Art der Wirkung; es macht nicht, dass wir weniger, nur dass wir mit andren Augen sehen. Dadurch ist das Feld des Dichters nicht verengt, nur sein Ton verändert worden.

Wo derselbe indess nun wirklich Handlung dargestellt hat, da geht sie auch ununterbrochen fort, steht sie vom ersten Gesänge an keinen Augenblick stille. So oft wir auch bloss Zuhörer der Unterredungen der aufgeführten Personen sind, so vertreten dieselben doch nie die Stelle der Handlung, sondern sind immer vollkommen an ihrem Platz. Statt also dass ihre häufige Wiederkehr ein Fehler des Plans wäre, ist sie nur eine unvermeidliche Folge des einmal gewählten Stoffs. Sie dienen noch ausserdem eine gewisse Weile zu bewirken, den Gang der Handlung bald anzuhalten, bald zu beschleunigen. Denn nirgends bewegt sich dieselbe weder zu rasch für die Zeit, die ihr gegeben ist, noch zu langsam für die begierige Aufmerksamkeit des Lesers.

Was aber diesem Gange vorzüglich Leichtigkeit und Natürlichkeit giebt, ist die Menge der einzelnen Momente, in welche sie vertheilt ist und deren man in diesem kleinen Umfange, ohne nur irgend zu sehr einzuschneiden, gewiss gegen Hundert zählen könnte. Wie wichtig dieser Umstand ist, beweist uns Homer, der vorzüglich dadurch die ungeheure Individualität, die schöne Bewegung, das rege Leben erhält, dass er alle Augenblicke absetzt und dass immer Moment auf Moment folgt, so dass der kürzeste Gesang, wenn man ihn am Ende in allem seinem Détail, nach allen den Punkten übersieht, wo man, einen Augenblick verweilend, von einem Umstande zum andern überging, in der Erinnerung eine beträchtliche Länge erhält, dadurch die Natur nachahmt und die Phantasie gleichsam täuscht, die wirkliche Zeit selbst mit durchlaufen zu haben. Je mehr die Kette der Begebenheiten gegliedert ist, desto weniger scheinen die einzelnen Glieder aus der willkührlichen Anlage des Dichters, desto nothwendiger aus einander selbst zu entstehen, und desto geschmeidiger[324] wird das Ganze. Dadurch vorzüglich unterscheidet sich der Dichter der Natur von dem Dichter der Schule, und selbst ohne auf den Zuwachs zu sehen, den er dadurch an Leichtigkeit und Freiheit gewinnt, ist es schon in Absicht der blossen Form des Fortschreitens der Handlung der Einbildungskraft gefälliger, sie, gleich einem leicht bewegten Strome, in lauter kleinen, sanft gebrochenen und doch immer stetigen Wellen hinfliessen zu sehen.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 321-325.
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