VII

Nachahmung der Natur

[144] Der Begriff des Idealischen, als etwas über die Wirklichkeit Erhabenen, erinnert an das Gesetz der Nachahmung der Natur, das man bisher gewöhnlich dem Künstler zu befolgen geboten, ja sogar als eine Definition der Kunst selbst angesehen hat. In der That fasst es auch die beiden Hauptbegriffe derselben in sich: den der Realität in dem Ausdruck der Natur und den, dass dieselbe doch anders, als sie wirklich ist, dargestellt werden soll, in dem der Nachahmung, die nie eine völlige Uebereinkunft mit ihrem Vorbilde erlaubt. Aber es enthält eine Unbestimmtheit, die nur dadurch vermieden werden kann, dass man das Wesen der Kunst nicht (wie man bisher nur zu oft gethan hat) in der Beschaffenheit ihres Gegenstandes, sondern in der Stimmung der Phantasie aufsucht.

Zwar hat man sich bemüht, dieser Unbestimmtheit auf eine doppelte Weise abzuhelfen. Man hat dem Künstler empfohlen, nur die schöne Natur und diese nur schön nachzuahmen. Allein der Begriff des Schönen veranlasst vielerlei Misverständnisse, ist von durchaus unbestimmter Ausdehnung und lässt immer neue und höhere Grade zu. Der des Idealischen hingegen ist vollkommen bestimmt. Denn alles ist idealisch, was die Phantasie in ihrer reinen Selbstthätigkeit erzeugt, was daher vollkommne Phantasie-Einheit besitzt. Diese nun ist immer eine geschlossene Grösse, obgleich, da kein Künstler hoffen darf, sie ganz zu erreichen, die Stärke der Phantasie in den einzelnen Individuen auch hier unzählige Grade – jedoch nur in der Ausführung, nicht in der Forderung – zulässt.

Die andre Zweideutigkeit, welche der Ausdruck der Nachahmung veranlasst, hat man dadurch vermeiden wollen, dass es keine leidende Nachahmung, sondern eine selbstthätige Umwandlung der Natur seyn müsse. Aber auch die Gränzen und die Art dieser Umwandlung verlangten neue und, genau zu reden, unmögliche Bestimmungen.

Die einzige Art, diesen Streit zu schlichten, bleibt daher[144] der subjective Weg, den wir gewählt haben und der dennoch nicht weniger zu einer vollkommen objectiven Definition der Kunst führt. Denn da der Künstler die Natur (unter der wir den Inbegriff alles dessen, was für uns Realität haben kann, verstehen) zu einem Gegenstande der Phantasie macht; so ist die Kunst die Darstellung der Natur durch die Einbildungskraft; und diese Definition unterscheidet sich so wenig von der oben (III) gegebenen, dass sie vielmehr nur ein objectiver Ausdruck derselben ist.

Diese Darstellung kann nun nicht anders, als schön seyn; denn sie ist ein Werk der Einbildungskraft. Sie muss eine Umwandlung der Natur enthalten; denn sie versetzt dieselbe in eine andre Sphäre. Die Definition selbst aber fasst die Bestimmung in sich, welche Schönheit ihr angehören, welche Umwandlung die Natur erfahren soll; keine andre nemlich, als welche jene Versetzung in ein fremdartiges Medium von selbst mit sich bringt.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 144-145.
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