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Augenblick, in welchem die Handlung anhebt

[326] Die Wahl des Augenblicks, in welchem der Dichter die Handlung aufnimmt, gehört zu den vorzüglichsten Beweisen seiner Geschicklichkeit in der Behandlung derselben. Denn von ihm hängt das Interesse ab, das sogleich und unmittelbar in uns erregt werden soll. Daher ist es beinah zur Regel geworden, den Zuhörer gleich in die Mitte der Begebenheit zu versetzen, und in der That ist jeder Anfang zu leer und unbestimmt; es bleibt zu ungewiss, was man sich von dem Erfolge versprechen darf, als dass schon da eine bedeutende Theilnahme entstehen könnte. Auch unser Dichter ist dieser Regel getreu geblieben, er hatte aber hierzu noch einen andern und wichtigern Grund.

Der Anfang seiner Handlung ist Herrmanns Fahrt nach dem Zuge der Ausgewanderten und die Vertheilung der Geschenke, mit welchen ihn seine Eltern hingesendet hatten. Diese ganze Scene entzieht er unsern Augen; wir hören nur die Schilderung derselben aus Herrmanns und des Apothekers Munde; diess aber ist auch die einzige Stelle, wo wir nicht unmittelbare Augenzeugen des Geschilderten sind. Die Hauptgruppe in unserm Gedicht ist Herrmanns Familie; wenn wir an der Begebenheit, die uns erzählt wird, Theil nehmen sollen, so müssen wir erst mit dieser vertraut werden. Diese müssen wir also auch allein im Vordergrunde erblicken. Hätte der Dichter jene Schaar ausgewanderter Flüchtlinge, die Verwirrung ihres Zugs, das Unglück ihrer hülflosen Lage unmittelbar selbst uns vorgeführt, so hätte unser Gemüth, durch diesen Ungeheuern Gegenstand plötzlich erfüllt und zerstreut,[326] sich nicht wieder auf den Punkt sammeln können, in welchem doch eigentlich allein das ganze Interesse verborgen liegt. Er hätte, in der Nähe auftretend, alles Andre gewaltsam niedergeschlagen, da er jetzt, in der Ferne erscheinend, vielmehr eine überaus schöne und verstärkende Wirkung hervorbringt. Hat unser Dichter nur erst Zeit gewonnen, uns seine Personen und ihre Schicksale ans Herz zu legen, so scheut er sich nicht mehr, uns mitten in das grösseste Gewühl zu führen, uns mit den erschütternden Schilderungen eines furchtbaren Kriegs und einer grossen Revolution zu unterhalten. Er hat uns einmal eine bestimmte Empfindung eingeflösst; statt dass wir aus derselben herausgehen sollten, ist er gewiss, dass wir nur auf sie allein alles Fremde beziehen.

Auf diesem Zuge ist es ferner, dass Dorothea zuerst ihrem Herrmann erscheint, und der Dichter erreicht nun auf einmal einen doppelten Zweck, wenn er mit der Begebenheit selbst auch den Eindruck schildert, den sie in ihm zurückgelassen hat. Endlich schliesst sich die Zeit der ganzen Handlung kürzer und schöner zusammen, wenn das Gespräch über Herrmanns Verheirathung, das den eigentlichen Anfang der Verwickelung macht, auch gleich in den ersten Gesängen anhebt, wenn es die erste bedeutende Scene ist, die wir vor unsern Augen vorgehen sehen.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 326-327.
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