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Entscheidende Umstände, durch welche die Handlung ihre Hauptwendungen erhält

[327] Drei Hauptwendungen sind es vorzüglich, durch welche die Handlung eine entschiedene Richtung erhält: der Streit zwischen dem Vater und dem Sohn, das Begegnen Herrmanns und Dorotheens am Brunnen und sein Antrag, sie nur als Magd in sein Haus zu führen, verbunden mit der verstellten Rede des Geistlichen, durch welche dieser die hieraus entstandene Verwirrung noch weiter fortdauern lässt. Alle diese drei Umstände aber entspringen durchaus natürlich aus der ganzen jedesmaligen Lage und[327] die beiden letzteren passen noch überdiess so gut zu dem Charakter des epischen Gedichts, dass der Dichter sie schon in dieser Hinsicht hätte wählen müssen, wenn er sie auch nicht zu seiner Absicht gebraucht hätte.

Der Vorwurf des Vaters beschleunigt den Gang der Handlung, die sonst nicht so leicht zur Entscheidung gekommen wäre; Herrmanns Gemüth musste durch sie so bewegt, seine zärtliche Mutter um ihn so besorgt, sein Herz durch ihre liebevolle Sorgfalt so tief gerührt werden, wenn er, der sich sonst so schwer entschloss, sich so schnell entdecken, so plötzlich die entscheidenden Schritte zu wagen entschliessen sollte. Zugleich aber ist es so natürlich, dass der Vater in einer Stunde, wo er heiter gestimmt, aber durch die Begebenheiten der Zeit ernsthafter bewegt ist, der Verheirathung seines Sohnes gedenkt, die ihm schon lange am Herzen lag, und dass der Anblick so vieler Unglücklichen, welche das Schmerzliche einer traurigen Flucht darum noch bittrer empfanden, weil ihre Frauen und Kinder es mit ihnen theilten, das Gespräch überhaupt auf diese Materie lenkt.

Von dem Begegnen beider Liebenden am Brunnen haben wir schon im Vorigen gesprochen; es gehört zu den Ereignissen, in welchen gerade das Wunderbare und Ueberraschende natürlicher ist, als das Gegentheil. Kein Zustand einer stärkeren Leidenschaft, einer höheren Spannung der Seele wird je ohne ein solches ungefähre Zusammentreffen bloss zufälliger Umstände gefunden werden, sey es nun, dass wir alsdann nur diese Umstände schärfer herausheben und dauernder in unserer Empfindung aufbewahren, oder sey es wirklich, dass eine geheime und unbegreifliche Sympathie der Seele diejenigen zusammenführt, die in ihren innersten Empfindungen Eins sind, oder dass dieselbe Gemüthsstimmung ihnen wenigstens ähnliche Richtungen gebe, in welchen sie sich öfter und leichter begegnen.

Die Schürzung des Hauptknotens endlich entspringt sehr natürlich aus Herrmanns und Dorotheens Charakter. Er, feierlich gestimmt und tief bewegt und aus mehr als[328] Einem Grunde, aber vorzüglich wegen des Ringes (den der Dichter so treflich benutzt hat) an der Erfüllung seiner Wünsche zweifelnd, musste nothwendig in seinen Worten zaudern und stocken, Dorotheens leichte und gewandte Besonnenheit ihm eben so nothwendig mit einer kurzen Entscheidung zu Hülfe kommen. Das Unglück ihrer Lage muss ihr einen Antrag zur Heirath so unglaublich und dagegen den, den sie wirklich annimmt, so wahrscheinlich machen, und seine Schüchternheit, seine Freude, sie doch wenigstens nun in seiner Nähe zu besitzen, seine Furcht, durch einen andern Zusatz auf einmal alles wieder zu verderben, muss ihn diesen Ausweg, den sie ihm darbietet, mit beiden Händen ergreifen lassen.

In der That hätte der Dichter kein glücklicheres Mittel finden können, seine Wirkung zugleich hinzuhalten und zu verstärken. Wie schön wird nun der Rückweg der beiden Liebenden durch diess Misverständniss, das Dorotheen die ganze Freiheit in ihren Aeusserungen gegen Herrmann erhält, welche das Bewusstseyn anerkannter Gefühle nothwendig raubt! Welche liebliche Zweideutigkeit bringt es in die Worte des Jünglings, mit denen er, immer zweifelnd, aber auch immer bald mehr, bald weniger hoffend, ihr seine Besitzungen, das Haus seiner Eltern, diess Fenster der Kammer zeigt, die er bisher einsam bewohnt hat und nun doppelt glücklich an ihrer Seite bewohnen wird. Wie gern hören wir ihn hier, nicht mehr im Stande seine Empfindung ganz an sich zu halten, ihr sagen, dass diese Kammer künftig die ihrige seyn wird, aber auch gleich durch den Zusatz:


– – wir verändern im Hause


wieder das zurücknehmen, wodurch er sich verrathen zu haben glaubt. Wie glücklich hat der Dichter diese ganze Stelle auf einem reizenden Mittelwege zwischen dem Ernst der Wirklichkeit und dem Spiel einer blossen Einbildung gehalten.

Die letzte von denen, welche wir hier zusammen anführten und welche die Entwickelung noch am Schluss[329] einen Augenblick verzögert, thut uns, wie sich nur wenige Leser werden abläugnen können, auf gewisse Weise wehe. Wir haben einen so innigen Antheil an Herrmanns und Dorotheens Gefühlen genommen, dass wir die Verwirrung, die, wenn sie uns bis jetzt selbst ergötzte, nun für beide drückend werden kann, gern unmittelbar gelöst wissen möchten; wir sympathisiren überhaupt inniger mit ihnen, als mit den andern Personen, die eben im Hause versammelt sitzen; wir sind schon darum anders und zarter, als sie bewegt, weil wir die beiden Liebenden auf ihrem Wege begleiteten, weil wir, eben so wie sie selbst, durch die Ungewissheit ihrer Lage und die augenblickliche Verstimmung durch den Unfall auf der Treppe des Weinbergs reizbarer und verwundbarer geworden sind. Dagegen ist der Pfarrer zwar ein aufgeklärter und einsichtsvoller Mann, aber mehr eine heitre und unbefangne, als empfindsame Natur, und in dem Augenblick, da das Paar in die Thüre tritt, freut er sich ein Werk vollendet zu sehen, das er grösstentheils selbst bereitet hat. In diesem Moment kann er, weniger um den Schmerz, den er augenblicklich zufügen wird, als um die Erklärung bekümmert, die er hervorlocken will, der Versuchung nicht widerstehen, das Gemüth des Mädchens aufs Aeusserste zu bringen und dadurch ihre Gesinnung zu prüfen. In diesem Sinn setzt er die Verwirrung durch Verstellung fort und auf diese Weise konnte der Dichter eine Aeusserung nicht vermeiden, zu der einmal alles gegeben, alles vorbereitet war.

Aber er hätte auch seinen epischen Vortheil nur wenig verstanden, wenn er sie, durch eine falsche Delikatesse verleitet, hätte aufgeben wollen. Denn gerade diese minder sorgfältige Achtung zarter Gefühle, diese Stimmung, in der wir andre nicht für verwundbarer ansehen, als uns selbst und daher ohne weitere Rücksicht unsern Launen oder Einfällen folgen, vielmehr an absichtlich angerichteten Verwirrungen und Misverständnissen, von denen wir doch voraussehen, dass sie sich zuletzt in einen bloss heitern Scherz auflösen müssen, eine sichtbare Freude[330] haben, ist den eigentlich natürlichen, rein realistischen und also durch beides wahrhaft epischen Charakteren am meisten eigen. Daher findet man auch Stellen dieser Art nirgends so häufig, als in den Alten und Homers »herzzerschneidende Worte«, die vorzüglich in der Odyssee so oft wiederkehren, stehen meistentheils in keiner andern Bedeutung da, als hier die Rede des Geistlichen, nur dass ihnen mehr lustiger Scherz und manchmal sogar eine gewisse Rohheit beigemischt ist.

So wie diese einzelnen sind die meisten oder, genau genommen, vielmehr alle Umstände, die der Dichter in seinen Plan verwebt hat, durch eine dreifache Nothwendigkeit begründet:

1., als Folgen des vorher Gegebenen;

2., als Mittel zum Zweck des Ganzen;

3., endlich als die tauglichsten Werkzeuge zur Hervorbringung einer wahrhaft epischen Wirkung, und daran, dass dieses alles immer unzertrennlich zusammengeht, sieht man, dass das Ganze aus einer einzigen rein dichterischen Anschauung entstanden ist. Diess durch alle Theile des Gedichts hindurch einzeln zu zeigen, würde eine überflüssige Arbeit seyn, da gewiss alle in ihrer ganzen Verkettung dem Leser gegenwärtig sind. Auch haben wir im Vorigen (XXX-XXXVI.) schon eine Veranlassung gefunden, die uns beinah durch das ganze Gedicht vom Anfange bis zum Ende geführt hat. Wir können uns daher hier begnügen, nur noch ein Paar allgemeine Bemerkungen hinzuzufügen.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 327-331.
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