XCII

Benutzung des Orts und der Zeit

[331] Die Quellen, aus welchen der epische Dichter alle seine Mittel schöpft, sind allein der Lauf der Begebenheit und die Natur der Charaktere, die er darstellt. Der unsrige, der in dem ersteren keine grosse Hülfe finden konnte, musste sich vorzugsweise an die letztere halten; indess hat er der eigentlichen Begebenheit etwas andres unterzuschieben[331] gewusst, wovon er mehr, als vielleicht bisher ein andrer Dichter treflichen Nutzen gezogen hat – den Ort und die Zeit.

Beide bestimmt er mit unermüdlicher Sorgfalt, bei beiden vernachlässigt er schlechterdings keine Beziehung, die sie auf die Handlung oder die Personen haben können und dadurch gruppiren sich nun in diesen Umgebungen die Figuren noch dichter und schöner zusammen. Die Zeit der Handlung ist, wie das Verhältniss zu ihrem Umfange forderte, nur sehr kurz, nur von dem Anfang des Nachmittags bis zum Einbruch der Nacht. Auch diess ist wieder zugleich in der Lage der Sachen gegründet. Eilte nicht Herrmann, Dorotheen noch an demselben Tage zu besitzen, so zog sie fort und verschwand ihm vielleicht auf immer


In der Verwirrung des Kriegs

und im traurigen Hinziehn und Herziehn.


Der Tag ist ein schwüler Sommertag, der sich mit einem Gewitter und Regenguss endigt. Wie gut der Dichter diesen Umstand, den Einfluss der Tagszeit und des Himmels auf die Stimmung der Personen, benutzt hat, davon haben wir schon oben ausführlicher gesprochen. Aber er hat auch die allmähligen Grade, durch die bei der Hitze eines schwülen Sommertags sich nach und nach ein Gewitter zusammenzieht, so stufenweis und so mahlerisch geschildert und diese Schilderungen überall so natürlich eingeflochten, dass wir den Nachmittag und Abend mit zu durchleben, die staubige Hitze zu fühlen glauben, den Himmel sich gegen Abend nach und nach schwärzen, endlich die schweren Wolken den voll und hellstralenden Mond verschlingen sehn.

Nicht weniger sorgfältig macht er uns mit dem Local bekannt, nicht weniger Vortheil zieht er aus einigen schönen Standpunkten, wie aus der Aussicht auf das Städtchen am Birnbaum. Wir kennen die Stadt, den Weg zum benachbarten Dorf, den Fusspfad, der von da durch das Korn zu Herrmanns Besitzung führt, vor allem aber den[332] Gang vom Birnbaum in die Wohnung, den wir zweimal mit so verschiednen Empfindungen zurücklegen, genau. Dennoch ist in keinem einzigen Verse eine absichtliche Beschreibung enthalten; aber da alle Personen immer mit der ganzen Anschaulichkeit reden, die sonst nur ein wirkliches Gespräch hat, und da es ein kleiner Kreis ist, in dem man sich herumdreht, in dem also dieselben Gegenstände mehreremale wiederkehren; so ist es eben so viel, als hätte man diesen halben Tag an dem Orte selbst zugebracht. Der Dichter dachte sich die Handlung nie ohne das Local und dieses nie ohne jene; daher zeigt er es immer zugleich mit ihr und beschreibt es nie allein und für sich. So kann z.B. der Apotheker, wenn er, ohne alle Absicht, in einer ganz episodischen Erzählung den Ort einer Spazierfahrt nennt, auf keinen andern, als auf den Lindenbrunnen kommen, der uns schon durch eine ganz andre Erinnerung so werth ist; und eben so in allen übrigen Stellen.

Aber unsrem Dichter macht es auch die Eigenthümlichkeit seines Stoffs mehr, als einem andren zur Pflicht, die äussern Verhältnisse seiner Personen nicht zu vernachlässigen. Da sie immer weniger durch ihre einzelnen Handlungen, als durch ihren Charakter, ihre Gesinnungen, ihre Lebensart interessiren können, so darf er nicht weniger Sorgfalt darauf verwenden, diese Dinge, die sie täglich umgeben, als sie selbst zu zeigen.

So hat sein Plan den festesten Zusammenhang, so durchgängige Stetigkeit der Bewegung und vollkommene Einheit des Ganzen. Aber er verbindet mit diesen Vorzügen noch einen andern, der, wenn er auch nicht seine epische Tauglichkeit vermehrt, doch die Wirkung des Gedichts sehr angenehm verstärkt, nemlich eine gewisse regelmässige, man darf es sagen, absichtliche Symmetrie. Sie kann dem aufmerksamen Leser von selbst nicht entgangen seyn und auch wir haben sie schon an mehr als Einer Stelle in dem Bisherigen berührt. Sie giebt der ganzen Production eine gewisse Lieblichkeit und Zierlichkeit, die nur der Kunst angehört und den Werken derselben um[333] so sichtbarer eigen seyn muss, als es ihnen an grossem Umfang und an eigentlicher Erhabenheit abgeht. Wo sie fehlt, wird das Ernste leicht feierlich, das Pathetische leicht drückend; wo sie übertrieben ist, geht alle Wahrheit und aller Eindruck auf die Empfindung verloren. So, wie unser Dichter, hierin die Mittelstrasse zu halten, die höchste und einfachste Natur, so ganz ohne ihr das Mindeste ihrer Wahrheit zu entziehn, mit dem sichtbaren Gepräge der Kunst zu stempeln, ist vielleicht der sicherste Beweis einer ächten Künstlernatur.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 331-334.
Lizenz:
Kategorien: