XCVIII

Idealität in der Charakter-Schilderung – Verhältniss der Charaktere zu einander

[346] Durch diese Schilderung Dorotheens hat der Dichter gezeigt, wie genau er natürliche Wahrheit mit ächter Idealität zu verbinden weiss. Dorothea ist in der That ganz das, was sie selbst von sich sagt:


– ein tüchtiges Mädchen,

Zu der Arbeit geschickt und nicht von rohem Gemüthe.


Diess ist sie, wenn man sie mit dem kalten Auge des blossen Beobachters betrachtet. Aber wie viel mehr noch erscheint sie dem Blick ihres Geliebten, wie viel mehr uns, da wir sie jetzt, durch den Dichter dazu begeistert, in dem Spiegel der Einbildungskraft ansehn! Ohne dass jenes natürliche Bild sich im mindesten verändert, können wir ihr jede weibliche Grösse, jede weibliche Tugend, jede weibliche Schönheit, die nur überhaupt mit diesem Charakter übereinstimmen, beilegen und keine wird ihr fremd, jede eigenthümlich erscheinen.

Auf eine vielleicht noch auffallendere Weise finden wir indess diess Idealische in der Schilderung des Vaters. Ganz wie er da ist, könnte ein solcher Charakter in der Natur existiren und alsdann würden wir ihn wohl manchmal angenehm und ergötzend, aber gewiss nicht liebenswürdig im Ganzen finden. Wodurch kann er nun in den Händen des Dichters auf Idealität Anspruch machen? Bloss durch seine reine Eigenthümlichkeit, bloss dadurch, dass alles in ihm durchaus zusammenhängt, sich durchaus gegenseitig bestimmt, dass er das Gepräge einer reinen Geburt der Phantasie an sich trägt. Wodurch versichert er sich hier unsres ungetheilten Beifalls? warum[346] lässt er hier einen andern Eindruck, als in der Wirklichkeit zurück? Wieder eben dadurch, dass wir ihn hier nur mit unsrer Einbildungskraft anschauen, dass wir dort einen Menschen sehen, der, weil er einem beschränkten Charakter bleibend angehört, dadurch minder vollkommen ist, hier nur einen Charakter sinnlich dargestellt, der zwar im Leben manchmal vorkommt, hier aber nur als ein einzelner Zug in dem grossen Bilde der Menschheit erscheint; nur dadurch dass wir in dem Gebiete der Wirklichkeit unsre Aufmerksamkeit mit einer gewissen unruhigen Besorgniss immer nur auf die Schranken und Unvollkommenheiten derselben richten, da wir hingegen im Gebiete der Phantasie, besser und reiner gestimmt, nur ihre wirkliche Kraft, ihr wirkliches Wesen ins Auge fassen und jene Schranken nur als das ansehen, was diesem eine bestimmte individuelle Gestalt giebt.

Wie gut das Verhältniss der verschiednen Personen unter einander beobachtet ist, haben wir schon weiter oben bemerkt. Wir haben schon oben gezeigt, wie treflich sich unter allen der Jüngling und die Jungfrau hervorheben, wie alle andern sich immer in dem Grade, in welchem sie ihnen näher verwandt sind, auch näher und dichter ihnen zur Seite stellen, wie natürlich sich Herrmann und seine Eltern in das Bild Einer Familie, sie und die beiden Freunde in das Bild benachbarter Bewohner desselben Orts, sie alle endlich mit der ausgewanderten Gemeine, dem Richter und Dorotheen in das Bild derselben, nur in mehrere an Gestalt und Bildung verschiedene Stämme getheilten Nation zusammenschliessen.

Ueberall treffen wir daher das schönste Gleichgewicht, vollkommene Totalität, die natürlichste pragmatische Wahrheit, überall den ächten und reinen Charakter der epischen Dichtkunst an.[347]

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 346-348.
Lizenz:
Kategorien: