XII

Unterscheidung des hohen und ächten Styls in der Dichtkunst von dem Afterstyl in derselben

[155] Ob der Dichter bis zu diesem Gipfel der Kunst gelangt, ob er seine Leser mit sich bis zu dieser Höhe erhebt? diess ist also der einzige ächte Prüfstein seines wahren ästhetischen Werths. Denn an diesem Ziele müssen sich alle mit einander vereinigen, welche den Namen eines Künstlers mit Recht tragen wollen, wie verschieden auch der Weg sey, den sie, gezwungen durch die Gattung, die sie gewählt haben, oder eingeladen durch die Verschiedenheit ihrer Individualität,[155] dahin einschlagen. Eine Nation, die noch nicht lebendig empfindet, dass dort allein die künstlerische Vollendung gesucht werden darf, eine Sprache, die es ihren Dichtern nicht leicht macht, diese Bahn mit Glück zu verfolgen, sind von dem grossen Styl in der Poesie noch entfernt und entbehren noch aller der wohlthätigen Folgen, die damit für die Bildung überhaupt und den Charakter verbunden sind.

Denn allerdings giebt es ausser jenem grossen und hohen Styl in der Kunst noch einen andern, der dem von Natur minder reinen oder durch Verwöhnung verdorbenen Geschmack sogar noch gefälliger schmeichelt und daher sehr oft mit jenem allein ächten verwechselt wird. Ja, da beide gewissermassen in zwei verschiedenen Regionen liegen, so kann selbst die Kritik zwischen zwei Kunstwerken zweifelhaft seyn, von denen das eine in jenem minder hohen Styl mehr leistet, als das andre auf seinem besseren, aber auch steileren und gefahrvolleren Pfade.

Unter allen Künsten aber ist keine der Versuchung, ihre eigenthümliche Schönheit durch erborgten Schmuck zu entstellen, so nahe, als die Dichtkunst. Denn ausserdem dass sie, wie jede andre Kunst, statt die Einbildungskraft völlig frei und selbstthätig zu erhalten, statt sie entschieden zu nöthigen, ein bestimmtes Object hervorzubringen, sie bloss mit angenehmen und gefälligen Bildern erfüllen, sie mit einem bunten, aber unbedeutenden Farbenspiel umgeben kann; so hat sie auch noch einen andren Abweg zu fürchten, der nur ihr allein angehört. Da sie durch die Sprache, also durch ein Mittel wirkt, das, ursprünglich nur für den Verstand gebildet, erst einer Umarbeitung bedarf, um auch bei der Phantasie Eingang zu finden; so schweift sie leicht in das Gebiet der Philosophie hinüber und interessirt unmittelbar den Geist und das Herz, statt bloss auf die Einbildungskraft einzuwirken. Mehr, als irgend eine ihrer Schwestern im Stande, auch noch durch etwas, das gar nicht mehr Kunst ist, zu gelten, findet sie überall die mehresten Anhänger, da hingegen die Musik, die Maklerei und vor allen die Plastik, in denen sich, vielleicht gerade in der hier[156] angegebenen Stufenfolge, der Begriff der Kunst immer reiner und enger zusammendrängt, nur den immer seltneren ächt ästhetischen Sinn zu fesseln vermögen.

Auf diesen Abwegen nun artet die Dichtkunst von ihrer eigentlichen und höheren Natur aus, sucht abwechselnd durch mahlerische Bilder zu gefallen und durch glänzende und rührende Sentenzen zu erstaunen und zu erschüttern, und sinkt von der Geburt des Genies zu einem blossen Werk des Talents herab. Zwar ist sie auch so noch immer einiger und unter den Händen grosser Meister (die man auch hier nicht verkennen darf) noch sogar einer grossen Wirkung fähig; sie kann zugleich die Einbildungskraft in Bewegung setzen und sich des Geistes und des Herzens bemächtigen; sie kann durch Blitze des Genies Bewunderung und Rührung erregen; aber immer wird man seine erleuchtende und erwärmende Flamme entbehren, immer in dem Mangel jener innigen Begeisterung, jener hohen und harmonischen Ruhe die Gegenwart der ächten Kunst vermissen.

Denn die Einbildungskraft, die hier nie frei und allein wirkt, vermag uns nicht aus dem Kreise aller Wirklichkeit hinaus in das Land der Ideale zu versetzen, und ohne das ist, welche Mittel man auch sonst anwenden möchte, niemals eine ächt künstlerische Wirkung denkbar.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 155-157.
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