XIX

Eigentliche Natur der Dichterkunst, als einer redenden Kunst

[173] Wir haben die Dichtkunst im vorigen Abschnitt mehr, in so fern sie von der bildenden verschieden, als in so fern sie ihr entgegengesetzt ist, betrachtet. Von dieser letzteren Seite könnten wir auch dieselbe füglich ganz mit Stillschweigen übergehen, da sie von dieser das gegenwärtige Gedicht nicht berühren kann. Um indess die ganze Materie vollständiger zu erschöpfen, sey uns noch diese Abschweifung erlaubt. Je mehr man die Natur der Dichtkunst, als einer bloss redenden Kunst erörtert, desto klarer wird man begreifen, wie es möglich ist, sie als bildende zu behandeln.

Die Poesie ist die Kunst durch Sprache. In dieser kurzen Beschreibung liegt für denjenigen, welcher den vollen Sinn dieser beiden Wörter fasst, ihre ganze hohe und unbegreifliche Natur. Sie soll den Widerspruch, worin die Kunst, welche nur in der Einbildungskraft lebt und nichts als Individuen will, mit der Sprache steht, die bloss für den Verstand da ist und alles in allgemeine Begriffe verwandelt – diesen Widerspruch soll sie, nicht etwa lösen, so dass nichts an die Stelle trete, sondern vereinigen, dass aus beidem ein Etwas werde, was mehr sey, als jedes einzeln für sich war. Ueberall aber, wo im Menschen widersprechende Eigenschaften zu etwas Neuem verknüpft werden, da ist er gewiss, in seiner höchsten Natur zu erscheinen. Denn diese Eigenschaften widersprechen sich schlechterdings so lange, als seine innere Geistesstimmung der wirklichen Welt um ihn her gleicht, und es giebt kein anderes Mittel, sie zu vereinigen, als wenn man ihn aus dieser Beschränktheit hinweg in ein unendliches Feld versetzt, ihn an der Hand der Philosophie in die Region der Ideen hinüberführt oder auf den Flügeln der Poesie zu Idealen erhebt.

Die Sprache ist das Organ des Menschen, die Kunst ist am natürlichsten ein Spiegel der Welt um ihn her, weil die Einbildungskraft im Gefolge der Sinne am leichtesten äussre Gestalten zurückführt. Dadurch ist die Dichtkunst unmittelbar und in einem weit höheren Sinn, als jede andere[173] Kunst für zwei ganz verschiedne Gegenstände gemacht: für die äusseren und die inneren Formen, für die Welt und den Menschen; und dadurch kann sie in einer zwiefachen, sehr verschiednen Gestalt erscheinen, je nachdem sie sich mehr auf die eine oder die andere Seite hinneigt.

In beiden Fällen hat sie die Schwierigkeiten der Sprache zu überwinden und sich der Vorzüge zu erfreuen, die sie gerade dadurch geniesst, dass diese und daher der Gedanke das Organ ist, durch das sie wirkt; allein wenn es die inneren Formen sind, die sie zu ihrem Objecte wählt, dann findet sie in der Sprache einen ganz eignen Schatz neuer und vorher unbekannter Mittel. Denn nunmehr ist diese der einzige Schlüssel zu dem Gegenstande selbst; die Phantasie, die sonst gewöhnlich den Sinnen folgt, muss sich nun an die Vernunft anschliessen; und wenn schon auf der einen Seite der Geist durch die Grösse und den Gehalt des Gegenstandes hingerissen wird, so muss noch ausserdem auch die Kunst einen noch höheren und rascheren Aufflug nehmen, um auch noch in diesem Gebiet die Einbildungskraft allein herrschend zu erhalten, zumal wenn sie nicht Empfindungen, sondern Ideen behandelt und also mehr intellectuell, als sentimental ist.

Diese Gattung, in der uns das Beispiel der Alten fast gänzlich verlässt, ist, sie mag nun rein oder vermischt mit andern erscheinen, der eigentliche Gipfel der neueren Poesie und kann ihr eigenthümlich genannt werden. Je entschiedner sich dieselbe jedoch von der andern trennt, desto weiter entfernt sie sich auch von dem leichtesten und einfachsten Begriffe der Kunst.

Jeder ächte Dichter nun wird dem einen der beiden hier geschilderten Charaktere eigenthümlicher angehören, mehr geneigt seyn, entweder die individuelle Natur der Sprache für die Kunst oder die der Kunst durch die Sprache geltend zu machen, dem gestaltlosen, todten Gedanken Form und Leben mitzutheilen oder die lebendige Wirklichkeit bildlich und anschaulich vor die Einbildungskraft hinzustellen. In beiden Fällen ist er gleich grosser Dichter; aber in dem ersteren leistet er mehr etwas, das nur die Dichtkunst und keine[174] ihrer Schwestern vermag, zeigt er mehr ihr innerstes eigenthümlichstes Wesen, wandelt er mehr einen einsamen, von keinem andern betretenen Weg, da er in dem letzteren mehr einen gemeinschaftlichen Pfad mit allen übrigen Künsten, nur auf seine Weise, verfolgt. In jenem kann er daher in einem noch engeren Sinne des Worts Dichter heissen, als in diesem.

In dieser letzteren engeren Bedeutung nun Dichter zu seyn, ist der Gattung, zu welcher Herrmann und Dorothea gehört, geradezu entgegengesetzt. Diess kann nur der lyrische, didaktische und tragische Dichter, die, nahe mit einander verwandt, Eine Classe zusammen ausmachen, nicht der epische. Dieser fordert Gestalten, Leben und Bewegung, führt den Menschen in die Welt hinaus und fängt, um zuletzt so gut, als jene sein Gemüth in seinen innersten Tiefen zu erschüttern, bei seinen Sinnen und den Gegenständen, die ihn umgeben, an.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 173-175.
Lizenz:
Kategorien: