XLI

Dieser Mangel an sinnlichem Reichthum zeigt sich auffallend in der Behandlung des Wunderbaren

[220] Seinen grössesten und sinnlichsten Glanz erhält der epische Dichter durch die Einmischung des Wunderbaren. Er kann unsre Einbildungskraft nicht lebendiger rühren, als durch diese plötzlichen Ereignisse, die, ohne von Menschen gewirkt zu seyn, ihre Handlungen auf einmal unterbrechen, gerade in dem Augenblick der Entscheidung den einen partheiisch begünstigen und den andren daniederschlagen. Zwar hat man erinnert, dass diese Dazwischenkunft ausserordentlicher Mächte die eigne Kraft der Helden verdunkelt. Allein wenn sie dadurch an menschlicher Grösse verlieren, so werden sie dafür in Olympischen Glanz gekleidet, und es giebt offenbar ein gewisses Glück, das der Stimmung, welche der Dichter bewirken will, bei weitem günstiger ist, als das wahre und innre Verdienst.

Auch unser Dichter hat sich diess Wunderbare zu eigen gemacht. Zwar konnte er es nicht gebrauchen, um seinem Stoff dadurch Würde und Grösse zu geben. Aber er konnte es nicht entbehren, weil der Mensch, dessen Schilderung sein Geschäft ist, nicht ohne dasselbe seyn kann, weil er der Empfindung, die es hervorbringt, so sehr bedarf, dass sie bei[220] jedem, mitten in dem einfachsten Lebenskreise, nur seltner oder öfter zurückkehrt.

Das Leben wäre von der langweiligsten Einförmigkeit, wenn sich immer in einer vorauszusehenden Reihe Begebenheit aus Begebenheit entwickelte und wenn vorher nicht berechnete, plötzliche Zufälle diese einförmige Kette nicht unterbrächen. Durch diese Zufälle nun, dadurch, dass ein grosser Theil der Thätigkeit unsrer Seele in seinem Détail ausser dem Kreis unsres Bewusstseyns liegt, dass Gedanken und Empfindungen wie aus unbekannten Tiefen hervorschiessen, dass ferner eben diese, uns unbewussten Vorstellungen gleichsam mit den Begebenheiten im Bunde stehen, unsren Minen, Reden und Handlungen Modificationen geben, die, ohne dass wir es bemerken, andere Folgen nach sich ziehen, so dass wir nun ein Zusammentreffen in den Wirkungen wahrnehmen, ohne zugleich eine Verbindung in den Ursachen zu erblicken – durch diess alles zusammengenommen entstehen die Ueberraschungen, die wir, je nachdem unsere Phantasie anders und anders gestimmt ist, mehr oder weniger zum Wunderbaren ausmahlen.

Diess hat unser Dichter zu benutzen verstanden, und wenn nun bei anderen neueren Dichtern das Wunderbare immer kalt und unnatürlich ist, weil es sich auf Kräfte bezieht, die uns fabelhaft oder kindisch er scheinen, so hat er es unmittelbar aus uns selbst geschöpft und ihm dadurch nichts von seiner überraschenden Wirkung benommen. Allein freilich verliert es dadurch an der Grösse und dem Glanz, den es sonst vor der Phantasie besitzt, und bleibt seiner eigentlichen Natur nur noch in seinem ursprünglichen Begriff, in dem des Grundlosen treu. Auch kann er es nur bei kleineren Vorfällen, weniger bedeutenden Wendungen seiner Erzählung gebrauchen. Die grossen und wahrhaft wunderbaren Begebenheiten, die er aufführt, darf er so wenig als Wunder darstellen, dass sie vielmehr durchaus nur als die unvermeidliche Nothwendigkeit des Schicksals erscheinen müssen.

Wir haben schon im Vorigen zwei Stellen berührt, wo das eben Gesagte sehr sichtbar ist, die Umwandlung, die der Geistliche in Herrmanns Wesen bemerkt, und die plötzliche[221] Erscheinung Dorotheens am Brunnen. Aber es ist noch eine dritte (S. 194.), noch mehr in den Faden der Erzählung verwebte übrig: die, wo Dorothea auf den Stufen des Weinbergs ausgleitet und die üble Vorbedeutung, die sie daraus zieht, durch die Verwirrung bei ihrem Eintritt ins Haus erfüllt wird. Wie wir es im täglichen Leben so oft selbst empfinden, so sehen wir es hier vor Augen. Wenn die Gefühle aufs höchste steigen, wenn der Augenblick der Entscheidung wichtiger Ereignisse da ist, so verwirren sich unsre Gedanken; was wir vornehmen, misräth uns, alle widrigen Umstände scheinen auf einmal zusammenzutreffen, weil wir alle ungeschickt behandeln; und da wir diess selbst bemerken und schon trübe gestimmt sind, so ziehen wir ungünstige Ahndungen daraus, die dann auch nothwendig eintreffen müssen. Aber gerade, wie es im Leben geschieht, dass alle, auch die kleinsten Zufälle sich dann so zusammenschieben, dass jeder einzelne Schritt ganz natürlich ist und gar nicht mehr wunderbar erscheint, gerade so hat es auch der Dichter gemahlt. Doch diess zu entwickeln, würde uns zu weit führen und jeder Leser muss es, sobald er die Stelle noch einmal überliest, von selbst aufs lebendigste fühlen.

Was die Alten also ausserhalb der Gränzen der Erde im Olymp aufsuchen, das ist unser Dichter genöthigt, um es dem Alltagskreise der Begebenheiten zu entziehen, in die gleich verborgnen Tiefen unsres Gemüths zu versenken. Indess verliert es durch die künstlerische Behandlung, durch die Leichtigkeit der Darstellung, durch die Vergleichung, die wir so natürlich z.B. zwischen einer solchen Vorbedeutung und den Weissagungen im Homer und den Alten anstellen, von dem feierlichen Ernst der Wirklichkeit und gewinnt eine gewisse liebliche und zierliche Anmuth.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 220-222.
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