XLII

Der Unterschied dieses Gedichts von den Werken der Alten offenbart sich auch in einem ihm eigenthümlichen Vorzug

[222] Wer Herrmann und Dorothea in Stunden liest, in welchen sein Herz der Wirkung des Dichters offen ist, der muss[222] unläugbar erkennen, dass darin noch ein anderer Geist, als in den Werken der Alten herrscht. Er wird denselben nicht gerade grösser und besser, aber verschieden und, nur in einer andern Art, gleich treflich finden; er wird sich von ihm nicht mächtiger angezogen, aber inniger durchdrungen fühlen.

Wenn er den geringeren sinnlichen Reichthum, von dem wir im Vorigen redeten, nicht als einen störenden Mangel empfindet, so wird er daran erkennen, dass der Dichter sich auf einem andern Gebiet, als die Alten befindet, dass er (so viel diess nemlich die allgemeine Gleichheit des Dichterberufs erlaubt) von anderen Punkten ausgeht und einem andern Ziele nachstrebt, und dass er eben dadurch auch ihn nothwendig in eine andere Sphäre versetzt.

Und diess ist in der That auch der Fall. Wenn die Alten mehr die Natur in ihrer sinnlichen Pracht und Grösse mahlen, so legt er mehr das Innre der Mensch heit dar. Beide Gegenstände haben eine unwidersprechliche Grösse, der erstere ist ausserdem dem Wesen der Kunst mehr angemessen; aber wenn dieselbe auch in dem letzteren ihre ganze Schönheit erhält, so besitzt diess für uns, die wir mehr in Gedanken und Empfindungen, als in Anschauungen und Handlungen leben, vielleicht einen noch eigenthümlicheren Reiz.

Was unser Gemüth beständig beschäftigt, den Gedanken und das Gefühl, finden wir hier auf eine wunderbar grosse Weise behandelt und ausgebildet. Ueber die wichtigsten menschlichen Verhältnisse hören wir entgegengesetzte Meynungen mit einander ausgleichen; das Erhabenste, was über die Begebenheiten unserer Zeit gedacht werden kann, finden wir in seiner ganzen einfachen Grösse und vollkommen dichterisch ausgedrückt; unser Geist schwingt sich zu einer Höhe der Gedanken, die, man muss es offenherzig gestehen, den Alten schlechterdings fremd war. Es ist nicht, dass wir sie je in dem Gehalte gediegener Weisheit übertreffen, je die letzten Resultate besser und fester zusammenknüpfen könnten; aber es ist nur, dass sie den Gedanken, der doch auch so einer vollkommen künstlerischen Behandlung[223] fähig ist, nie rein und für sich verfolgen und daher auch unserer Seele nicht den intellectuellen Schwung mitzutheilen vermögen, von welchem diess immer begleitet ist.

Auf eine ähnliche Weise verhält es sich mit der Empfindung. Wenn wir Herrmann und Dorothea auf ihrem Wege zur Wohnung der Eltern begleiten, wie innig gehen wir da in ihre Gefühle ein, wie durchdringen wir sie bis auf die innersten Falten ihres Herzens, und wie tief führt uns diess in unsre eigne Brust, in die ganze Menschheit zurück! Niemand kommt den Alten in der Wahrheit und Stärke gleich, mit der sie Gefühle und Leidenschaften schildern. Aber wieder weil sie sich auch in diess Gebiet nicht so einsam einschliessen, weil sie die Empfindung mehr im Ganzen und in ihren Aeusserungen zeichnen, als im Einzelnen und für sich entwickeln, so versetzen sie uns nicht in die zarte, leise, verwundbare Stimmung, deren wir uns hier nicht erwehren können.

Dadurch sind zugleich alle Charaktere, nicht zwar in Rücksicht auf die natürliche Kraft und Schönheit, aber in Rücksicht auf eine gewisse feinere Bildung um eine Stufe höher gestellt. So einfach und ächt antik z.B. Dorothea geschildert ist, so besitzt das Alterthum dennoch keine weibliche Gestalt, die ihr an innerer Zartheit gleichkäme. Selbst in Herrmann ist etwas, wofür die Helden der Alten keinen Sinn haben würden; und wenn die Mutter schöner und grösser gehalten ist, als wir es in irgend einem andern alten oder neueren Dichter finden, wodurch ist diess geschehen, als dadurch, dass ihr ein zarterer und doch gleich reiner Begriff von Weiblichkeit untergelegt ist?

Wir sind darum weit entfernt zu behaupten, dass dieser moderne Charakter, an sich genommen, einen Vorzug vor dem antiken besässe, und noch mehr, dass diess in Ansehung der Forderungen der Kunst der Fall wäre. Aber, da demselben gemäss zwar keine bessere und kräftigere, wohl aber eine höhere und feinere menschliche Natur aufgestellt wird und die Verfeinerung auf dem Wege liegt, den das Schicksal unsrer Ausbildung vorgezeichnet hat, so verdient er, wenn er nur (worauf es immer zuerst ankommt) die Ansprüche[224] der Kunst vollkommen, befriedigt, eine eigenthümliche Stelle und würde mit Recht sogar eine vorzüglichere verlangen, wenn es ihm nicht dabei zugleich an andren Vorzügen mangelte.

Quelle:
Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Band 2, Darmstadt 1963, S. 222-225.
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